Mein am 8.3.1927 verstorbener Urgroßvater Johann Scharnberg hat handschriftliche Notizen über sein Leben hinterlassen, die für die Nachwelt erhalten bleiben sollen. Sie sind nicht nur für uns direkte Nachkommen ein wertvolles Dokument als Bestandteil unserer Familiengeschichte, sondern auch von allgemeinem Interesse, weil sie der Nachwelt ein eindrucksvolles Bild über die Lebensverhältnisse in weit zurückliegenden Zeiten vermitteln. Von dem ursprünglich in altdeutscher Schrift verfassten Text hat die Schwiegermutter meines Bruders eine Abschrift angefertigt, weil bereits die Generation nach uns Schwierigkeiten hat, das Original zu lesen. Diese Abschrift in die Form einer druckfähigen Vorlage zu bringen, hat Hans-Hubert Born übernommen, der mit meinem Bruder von 1938 bis 1942 in Trittau zur Schule gegangen ist. Dabei wurden Satzstellung und Formulierungen unverändert übernommen, nur die Zeichensetzung und Rechtschreibung wurde den heutigen Verhältnissen angepasst.
Lebens- und Leidensgeschichte des Altenteilers
Johann Scharnberg
und seiner Frau Johanna Scharnberg geb. Schneider
Ich, der Altenteiler Johann Joachim Friedrich Scharnberg, ältester Sohn des verstorbenen Halbhufners Johann Hinrich Scharnberg (geb. den 25. Februar 1816 ) und der gleichfalls verstorbenen Anna Margareta Scharnberg geb. Rosenau ( geb. den 28.Oktober 1818 ), bin geboren am 15.Oktober 1841 hier in Trittau. Ich habe von meinem 6. bis zu meinem 15. Jahr die hiesige Schule besucht, während dessen ich im Hause eine sehr strenge, aber gute Erziehung genoß. Ich sollte Ostern konfirmiert werden, nachdem ich aber bis zum 26.Februar 1857 am Konfirmations-Unterricht teilgenommen hatte, erhielt ich am letztgenannten Tage durch Sturz auf der Haustreppe einen schweren Beinbruch, zu dessen Heilung längere Zeit gehörte, nämlich beinahe 2 Jahre. Deshalb konnte von meiner Konfirmation vorläufig nichts werden, war nämlich vom 26.Februar bis zum 22.Mai 1857 hier im Hause in Behandlung des Doktors Schorer. Als derselbe aber im Mai 1857 selbst krank wurde und auch später starb, wurde ich von meinen Eltern nach dem allgemeinen Krankenhause in der Lohmühlenstraße in Hamburg gebracht. Dort angekommen, wurde schon am nächsten Tage, weil der Fuß nicht richtig behandelt war, von neuem gebrochen und auch gleichzeitig geschnitten, und dann ging die Heilung von neuem vor sich, gelang auch zum Teil, so daß ich im Sommer eine Zeit lang mit zwei Krücken gehen konnte. Es wollte aber nicht gelingen, den Fuß gründlich zu heilen, weil sich im Laufe der Zeit Knochenfraß eingestellt hatte. Deshalb entschloss Oberarzt Knorre sich Anfang November zu einer Operation, welche dann auch schon am 6.November vorgenommen wurde. Nach dieser Operation besserte sich der Fuß wieder bedeutend, es wollte aber immer noch nicht gelingen, ihn gänzlich zu heilen, und deshalb wurde am 27.Dezember eine zweite Operation vorgenommen, nach deren günstigem Verlauf die Heilung freilich langsam, aber stetig vor sich ging, so daß ich nach geraumer Zeit wieder mit Krücken gehen konnte. Während der Zeit, die ich mit Krücken und später mit zwei Stöcken gehen konnte, ging ich im Krankenhaus zu dem dort angestellten Pastor zum Konfirmations-Unterricht. Nachdem ich den Unterricht zur Zufriedenheit des Pastors beendet hatte, wurde ich am 11.April 1858 in der Kirche des allgemeinen Krankenhauses allein und zwar unter Beteiligung einiger Senatoren und einer großen Anzahl von Angestellten und Kranken konfirmiert. Bei dieser Konfirmationsfeier wurde mir von den Herren Senatoren eine herrliche Bibel, Gesangbuch und noch ein kleines Buch zum Andenken an diesen Tag überreicht. Da der Fuß sich in der letzten Zeit sehr gebessert hatte, so daß ich fast keine ärztliche Hilfe mehr nötig hatte, wurde ich am 14. April aus dem Krankenhaus entlassen, konnte mich freilich nur mit zwei Stöcken fortbewegen. Es lag aber keine Gefahr mehr vor und meine Eltern waren doch von den Kurkosten befreit, die nicht gering waren, nämlich alle 28 Tage 42 Mark. Nachdem ich den Sommer über hier mit 2 Stöcken, später mit 1 Stock gegangen bin, besserte es sich so, daß es im Herbst auch schon ohne Stock ging und ich auch schon leichte Arbeit mitverrichten konnte, bis ich schließlich im nächsten Jahre wieder alles mitmachen konnte. Obgleich es mitunter schwer wurde, freut man sich, wenn man soweit ist nach solch langer Schmerzenszeit.
Zwei Jahre später, am 14.April 1861, wurde mir und meinen 6 Brüdern unsere liebe Mutter nach längerer Krankheit durch den Tod entrissen und damit ging für uns Kinder, die wir im Hause waren, keine schöne Zeit an. Denn Vater musste sich eine Haushälterin nehmen und was es bedeutet, eine fremde Person bei so vielen Kindern, das kann derjenige, der es sich nicht versucht hat, kaum vorstellen. Dazu kam noch, daß unser Vater auch den Halt verlor, bei Mutters Lebzeiten hatte er nämlich schon Neigung zur Flasche, es war aber damals nicht schlimm. Mutter hatte großen Einfluss auf ihn und deshalb ging es so leidlich. Als aber Mutter tot war, nahm die Leidenschaft immer mehr zu, so dass es mitunter kaum zum Aushalten war. Meine beiden älteren Brüder Fritz und Heinrich waren bereits konfirmiert und in Hamburg in Dienst getreten, deshalb haben diese beiden weniger erfahren. Aber mein 3ter Bruder Hermann und ich haben alles gründlich durchmachen müssen. Die drei Jüngsten waren ja noch jung und weiter zurück, konnten sich deshalb keine rechte Vorstellung machen, was bei uns vorging. Dazu kam, daß Vater sich kaum um die Wirtschaft kümmerte. Er ist in den 3 Jahren, in denen er nach Mutters Tod alleine war, nur einmal zu Felde gewesen. Ein großes Glück für mich war, dass er das Vertrauen zu mir hatte, dass ich im Felde alles nach seinem Wunsch besorgte. Trat mal ein Unberufener hinzu und wollte mich anschwärzen, war er fast immer auf meiner Seite und derselbe musste abziehen, wie er gekommen war. Regelmäßig am Abend, wenn ich nach des Tages Last und Arbeit zur Ruhe wollte, musste ich noch mehrere Male zu ihm kommen und mir noch allerlei anhören. Ich war mitunter so müde, daß ich mich kaum aufrecht halten konnte. Es war deshalb kein Wunder, dass ich, sobald ich konnte, die Unterhaltung, die doch wenig Wert hatte, abbrach und zur Ruhe ging. Es dauerte mitunter aber nicht lange und ich musste wieder zu ihm kommen. Wenn's schließlich denn zu arg wurde, stieg ich zur Hill` und schlief im Heu. Im Bett war ich nicht sicher, denn wenn ich nicht zu ihm kam, so kam er und wollte mich holen. So ging es 3 Jahre, bis er am 2.März 1864 durch einen plötzlichen Tod (Schlaganfall) erlöst wurde.
Nach seinem Tod war ich der nächstberechtigte Erbe und sein Nachfolger auf der Halbhufnerstelle. Diese Erbschaft trat ich dann am 19. April 1864 an, fürwahr keine leichte Aufgabe, ich war ja noch jung, erst 22 ½ Jahre alt. Dazu kam, daß kein Testament vorlag, infolge dessen wurde mir die Stelle von fremden Leuten zutaxiert, die doch ganz anders verfahren, als es ein Vater tut. Außerdem wurde mir zur Pflicht gemacht, meine 3 jüngsten Brüder bis zu ihrer Konfirmation bei mir zu behalten, sie standesgemäß zu erziehen und auch mit allem, was zur Leibesnotdurft gehört, zu erhalten, eine Aufgabe, die nur mit Hülfe einer tüchtigen Lebensgefährtin zu lösen war. Deshalb musste ich mich entschließen, mich sobald als möglich nach einer solchen umzusehen. Dieselbe fand ich auch bald in der mir gleichaltrigen Tochter des Amtsvorstehers und Halbhufners Fr. Schneider von hier, Johanna Maria Schneider, geb. am 9.November 1841. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, wurde am 1.Juli 1864 unsere Hochzeit gefeiert, und dann gingen wir gemeinschaftlich an die schwere Aufgabe, die wir uns übernommen hatten. Es wurde uns mitunter nicht leicht, alle unsere Verpflichtungen zu erfüllen, denn erstens war die Annahmesumme für damalige Zeit eine sehr hohe. Da wir kein bares Kapital hatten, mussten wir die ganze Annahmesumme verzinsen und das Jahr ist leicht rum, dann sollen die Zinsen man da sein, und zweitens kam noch die Unterhaltung meiner Brüder und später unserer eigenen Kinder hinzu. Außerdem hatten wir auch viel Unglück mit dem Vieh, trotzdem wir uns alle erdenkliche Mühe gaben, haben wir doch 12 - 14 Kühe und einige Pferde sowie auch Schweine in unseren Wirkjahren in die Grube werfen müssen. Dazu kamen noch einige Jahre Misswuchs und außerdem haben wir noch eine zahlreiche Familie ernährt. Wir haben im Ganzen 12 Kinder und 2 Pflegekinder, die sollten man alle mit dem Nötigen ausgerüstet werden und dann, in den späteren Jahren, haben wir 7 Jahre lang Soldaten gehabt, die auch allerlei kosteten. Genug, wir hatten uns viel übernommen, haben aber alles mit sehr großem Fleiß und Gottes Hülfe fertig bekommen und sogar noch allerlei Verbesserungen wie Mergelei, Dränage u.s.w. machen können. Es war uns wahrlich manchmal nicht leicht, allem gerecht zu werden. Wir haben aber jederzeit gestrebt, das uns gestellte Ziel zu erreichen. Wurde es mitunter auch schwer, das Ziel zu erreichen, so trösteten wir uns, daß unser lieber Gott uns beiden eine sehr gute Gesundheit und eine nie versagende Arbeitskraft verliehen hatte und so gingen wir mit vereinten Kräften ans Werk, bis wir schließlich alle Schwierigkeiten überwunden hatten.
Wahrlich, wer eine solche Lebensgefährtin hat, kann sich beglückwünschen. Auch den Brüdern war sie eine gute Mutter. Das wurde von allen dreien anerkannt, so lange sie gelebt haben. Unserer Ehe sind im Ganzen 11 Kinder entsprossen, nämlich 7 lebende und 4 tote. Die Toten sind aber alle im zarten Alter gestorben, davon ist keiner 1 Jahr alt geworden. Die Namen der Lebenden sind:
Nachdem wir 31 Jahre miteinander gelebt und geschafft hatten, entschlossen wir uns am 1. April 1895 zur Ruhe und aufs Altenteil zu gehen, um die paar letzten Jahre unseres Lebens in aller Ruhe zu verleben, nach den vielen Mühen und Anstrengungen, die wir gehabt hatten, und die Halbhufnerstelle unserem Sohn Fritz zu übergeben. Derselbe übernahm dann auch die Stelle und verheiratete sich mit Berta Griem aus Todendorf, die aber nach 5 Jahren starb. Ein harter Verlust für uns, weil wir sie sehr lieb gewonnen hatten und mit ihrem Tode suchte uns das Schicksal von neuem heim, denn da uns die Wirtschaft im Hause noch so sehr am Herzen lag und Fritz sich auch nicht alleine helfen konnte, so ging Mutter eine Zeitlang wieder hinauf und übernahm ihren früheren Posten wieder. Die Anstrengungen und Strapazen waren ihr aber doch wohl zuviel, denn als sie es eine Zeitlang gemacht hatte, wurde ihr rechter Fuß so dick und ging entzwei. Dabei hatte sie fast immer viele Schmerzen, so dass sie fast weder Tag noch Nacht Ruhe hatte und die Schmerzen kaum auszuhalten waren. Der Arzt, den wir verschiedene Male zur Hülfe holten, konnte wohl etwas Linderung verschaffen. Er konnte es aber nicht dauernd heilen, so ging es fort 8 Jahre, von 1900 bis 1908, eine schreckliche und lange Zeit. Was wir diese 8 Jahre ausgestanden haben, ist nicht zu beschreiben. Mutter jammerte fast Tag und Nacht und das anzuhören, dazu gehört eine besondere Natur, die ich nicht hatte. Es half ja aber alles nichts, ich musste alles mit ertragen und sehen, wo ich konnte, ihr das Leben erträglich zu machen.
Inzwischen hatten wir erfahren, dass in Lübeck eine Frau Deutzen wäre, die dergleichen dauernd heilen könnte, aber Mutter ließ sich nicht überreden, daß wir deren Hülfe in Anspruch nehmen, denn die Leute hatten ihr vorgeredet, der Fuß müsste nicht heilen, dann würde sie sterben, und deshalb durfte kaum darüber gesprochen werden. Als aber im Jahre 1908 der Fuß sich weiter verschlimmerte, so dass wir gezwungen wurden, weil wir allein nicht mehr fertig werden konnten, unsere Dora aus dem Dienst zu nehmen, redeten wir eines Morgens beide auf sie ein, bis sie nach anfänglichem Sträuben endlich sagte:„ Na, denn macht, was ihr wollt!“. Sogleich machte ich mich auf und fuhr mit dem nächsten Zug nach Lübeck. Dort angekommen, war die Frau auch leicht gefunden. Nachdem ich dieselbe von allem genau unterrichtet hatte und wir alles besprochen hatten, gab sie mir gleich ihr Heilmittel mit und ich konnte mich wieder mit froher Hoffnung nach Hause begeben. Dort angekommen, konnten wir gleich anfangen, den Fuß zu heilen. Da das Mittel wohl etwas scharf war, so kamen, wie mir die Frau auch gesagt hatte, noch einige sehr schmerzhafte Tage zu überwinden, 4 - 6 Tage. Als die vorüber waren, verlor sich der Schmerz fast ganz und man konnte sehen, wie der Fuß sich von Tag zu Tag besserte. In einem Zeitraum von 4 Monaten waren die fast handgroßen Löcher heil und Mutter konnte wieder etwas freier aufatmen. Was sie diese 8 Jahre ausgestanden hat, ist nicht zu beschreiben. Einmal verordnete der Arzt, sie müsste ruhig zu Bett liegen, dann würde es leicht heilen. Das hat sie 9 Wochen durchgesetzt, ohne einen Erfolg zu sehen und sie das Liegen nicht mehr aushalten konnte.
In dieser langen Schmerzenszeit hat nun aber der Körper so stark gelitten, dass sie sich nur mühsam fortbewegen konnte. Auch hatte sich in den letzten Jahren ein Herzfehler eingestellt, dem sie schließlich am 29. April 1912 infolge eines Schlaganfalls nach nur 4tägiger Krankheit erlag. So endete ein rastloses, tätiges Leben voller Mühe und Arbeit. Gott gebe ihr im Grabe die ewige Ruhe.
Nach ihrem Tode stand ich ganz ratlos da, denn obwohl ich zu leben hatte, so wusste ich doch nicht, wie ich es am besten machen sollte. Allein ging es ja nicht und zu einer Haushälterin konnte ich mich nicht entschließen, da ich wusste, wie es bei Vater gewesen war. So habe ich den Sommer 1912 fortgelebt, nur des Nachts war Heinrich bei mir. Am Tage, wenn Heinrich auf Arbeit war, so war ich immer allein, des mittags zum Essen gingen wir beide zu Hermann und Dora, so den ganzen Sommer hindurch. Als es gegen den Herbst ging, fühlte ich, dass es so nicht weiter fortgehen konnte, namentlich als das Wetter im Herbst anfing, unbeständig zu werden. Deshalb musste ich an etwas anderes denken.
Da mir nun von vielen Seiten geraten wurde, ich müsste Heinrich auffordern, er müsste sich verheiraten und dann müssten wir, da die Wohnung groß genug sei, in Gemeinschaft leben, so entschloss ich mich schließlich dazu, womit er dann auch einverstanden war. Im November 1912 wurde dann seine Hochzeit gefeiert. Seit der Zeit leben wir zusammen. Seine Frau führt uns den Hausstand und es geht mir so leidlich, aber einsam und verlassen. Wenn man sich nicht etwas Zerstreuung macht, fällt es schwer, über alles hinweg zu kommen. Namentlich bei kaltem und schlechtem Wetter, wo man nicht heraus kann, sitzt man und grübelt und weiß mitunter nicht, was man machen soll. Bei gutem Wetter gehe ich gern umher, dann hat man Zerstreuung. Eine harte Prüfung hat der Herr mir auferlegt, ich will ihm aber nicht zürnen, er hat es mir auferlegt und er wird es mir auch wohl tragen helfen.
Heute, den 19. April 1914 vor 50 Jahren wurde mir die väterliche Stelle zutaxiert. Taxatoren waren Hufner F. Lübbers aus Grande, J. Möller aus Großensee und als Obmann fungierte Hofbesitzer Manshardt aus Trittau. Wenn man heute zurück denkt, so wird einem das Herz schwer, damals ein lebensfroher, kräftiger Mann und heute ein einsamer, alter Mann und was ist nicht alles an einen herangekommen. Mitten in Kriegswirren wurde die Stelle übernommen. Es war der 1.Tag nach der Erstürmung der Düppeler Schanzen. Hatte man auch nicht direkt mit dem Krieg zu tun, so fehlten aber doch nicht die Truppendurchzüge und dergleichen. Und dann die vielen Schicksalsschläge, Freud und Leid, die wir gehabt haben.
Es war keine leichte Aufgabe, die ich übernahm. Es gab viele Menschen, die fürchteten, ich würde nicht damit fertig, aber mit Hülfe einer guten Lebensgefährtin und im Vertrauen zu unserem lieben Gott haben wir alles zu Ende geführt, waren der Schicksalsschläge auch viele. Ich glaube nämlich ruhig sagen zu können, es ist fast keine Familie im Ort, die es so betroffen hat wie uns. Wir trösten uns aber mit den Worten: Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er. und gehen dann mit frischem Mut unserer Arbeit nach. Waren die Schicksalsschläge auch viel und hart, wir hatten doch auch manche Freude. Die Kinder alle gesund und kräftig, wuchsen heran und sind alle brauchbare ordentliche Menschen geworden. Unseren Fleiß belohnte uns der liebe Gott, indem er uns meistens eine gesegnete Ernte wachsen ließ, so dass wir damit zu einer der besten im Orte gehörten. Auch wurde mir in den Jahren, in denen ich Besitzer der Stelle war, manche Ehre zuteil. Es gab in den Jahren fast keine Ehrenämter, wo ich nicht mitgewirkt habe, gewiss ein Zeichen, dass ich mich eines guten und gewissenhaften Rufes bei einem großen Teil aller Dorfeingesessenen zu erfreuen hatte.
Heute am 29. April kurz nach Mittag sind es zwei Jahre, wo mir meine liebe Frau und unserer Kinder gute Mutter plötzlich und fast unerwartet durch den Tod entrissen wurde, fürwahr ein schwerer Schlag für uns. Wer sich das nicht versucht hat, der kann sich nicht denken, was in einem vorgeht. Es war der schlechteste Tag meines bisherigen Lebens, obgleich ich früher an Leiden und Schmerz schon allerlei durchgemacht habe. Wenn ein Paar Leute wie wir die langen Jahre, bei uns 48 Jahre, zusammen gelebt und geschaffen, Freud und Leid gemeinschaftlich ertragen hat und einer geht davon, so ist es keine leichte Sache, darüber hinweg zu kommen. Ich wäre am liebsten gleich mitgegangen, aber der liebe Gott hat's besser eingesehen und des Herrn Wille geschehe. Einen Wunsch hat der Herr mir doch erfüllet, nämlich ich habe oftmals gesagt, wenn einer von uns heimginge, so möchte ich gerne, dass Mutter die erste wäre, habe aber dabei nicht gedacht, daß es jetzt schon kommen sollte. Obgleich ihr Körper in den letzten Jahren stark gelitten hatte, war sie doch immer kerngesund und mochte gerne essen und trinken. Weil sie sich nicht bewegen konnte und sich in Folge dessen nicht alleine helfen konnte, wäre sie fast immer nur auf Bett und Stuhl angewiesen gewesen. Und dann immer die traurigen Gedanken, das würde für sie eine schwere Aufgabe geworden sein, obgleich es mir auch manchmal schwer wird, alles zu überwinden, so werde ich aber doch besser damit fertig. Denn solange ich noch kann, mache ich immer etwas Zerstreuung und wenn es zu arg wird, so kann ich, wenn das Wetter es erlaubt, das heißt, wenn's nicht zu kalt und schlecht ist, bisschen umher gehen, das war für Mutter aber ganz ausgeschlossen.
Sollte das eben Genannte aber aufhören und ich vielleicht nur an Bett und Stube gefesselt sein und meine Stunde gekommen ist, so möchte ich unsern lieben Gott bitten: Herr, mache es kurz, lasse des Leidens genug sein und lasse mich vereint mit meiner lieben Frau eingehen in Deine ewige Seligkeit, wie es in dem nachstehenden schönen Spruch heißt:
Treuen Herzen, die hienieden
stets geteilet Freud und Leid,
ist das höchste Glück beschieden,
vereint zu sein in Seligkeit.
Am 1. Juli 1864, also heute vor 50 Jahren, an einem gewitterreichen, regnerischen und stürmischen Tag, wurde im engeren Familienkreise meine und meiner leider vor reichlich zwei Jahren für mich viel zu früh verstorbenen Frau Hochzeit gefeiert. Hätte meine liebe Frau den heutigen Tag, den Tag der Goldenen Hochzeit, überlebt, welche Freude wäre es gewesen. Schon Jahre haben sowohl unsere Kinder wie die nächsten Anverwandten sich dazu gefreut, aber der liebe Gott hat es anders gewollt, und was er tut, ist wohlgetan. Ein großer Schmerz ist für mich, dass ich jetzt so einsam und verlassen dastehe. Obgleich ich bei meinen Kinder bin, fühle ich mich einsam und verlassen, denn die sind jung und haben andere Ansichten wie ein alter, von des Lebens Schicksal hart mitgenommener Mann. Mit welchen Gedanken man sich mitunter zu beschäftigen hat, kann der nur ermessen, der es sich versucht hat. Es ist fürwahr nicht leicht, wenn man in seinen alten Tagen eine treue, stets bereite Leid und Freud mit zu ertragende Gefährtin verlieren muss. Wer sich das nicht versucht hat, hat keine Ahnung, was manchmal in einem vorgeht. Es ist mitunter kaum zu ertragen und doch darf man nicht verzagen. Man muss immer sehen, daß man darüber wegkommt. So wie der 1. Juli 1864 ein stürmischer Tag war, war auch unser Lebensweg. Wir haben mitunter stark kämpfen müssen, haben aber durch unser gemeinschaftliches Handeln und mit Gottes Hülfe allen Stürmen getrotzt und sind Sieger geblieben, obwohl wir mitunter sehr enttäuscht wurden. Denn wenn man jung und lebensfroh ist, macht man sich allerlei Hoffnung, wird aber mitunter sehr enttäuscht. Aber man durfte in allen Fällen, die uns nicht gefallen haben, den Mut nicht verlieren und dann wird der liebe Gott, wie er es stets bei uns getan hat, bei gegenseitigem Willen und gemeinschaftlichem Handeln alles zum Besten kehren.
Wenn ich heute mir die Jahre unseres gemeinschaftlichen Handelns vor Augen halte, so wird mir schwer ums Herz. Welch schöne Zeit haben wir verlebt. Freilich hat es nicht an Mühe und Arbeit gefehlt, das kann uns aber niemals umlegen, wir waren ja jung und kräftig und vor allen Dingen auch gesund und hatten beide eine nie versiegende Arbeitskraft und freuten uns, wenn wir nur schaffen konnten. Als wir aber dann uns eine behagliche Ruhe gönnen konnten, wurde Mutter mir zu meinem ewigen Schmerz durch den Tod entrissen. Was ich seit ihrem Tode gelitten habe, ist nicht zu beschreiben, denn sie war mir von Anfang an eine liebe und gute Lebensgefährtin. Ein Trost ist es für mich doch noch in meinem Schmerz, nämlich der, dass sie auch im Tode noch nicht von den Kindern und Verwandten vergessen wird. Es wurde heute ihr Grab noch reich mit Kränzen und Blumen geschmückt, auch erhielt ich anlässlich dieses Tages einige Briefe und Zuschriften.
Heute am 29. April 1915 vor 3 Jahren wurde meine liebe Frau und unserer Kinder Mutter durch einen plötzlichen Tod von uns genommen. Was ich in diesem Jahr durchgemacht habe, ist kaum zu beschreiben, obwohl es mir bis zum August 1914 so leidlich ging, fühlte man sich aber immer einsam und verlassen, obgleich ich bei meinen Kindern bin. Die sind aber jung und wissen nicht, wie einem alten Mann zu Mute ist.
Als aber am 28. Juni 1914 der Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich und Frau Gemahlin durch von Serbien gedungene Mörder gelegentlich eines Besuches in Bosnien, und zwar in der Hauptstadt Serajewo, ermordet wurden und Österreich von Serbien für diese Tat Bestrafung der Mörder verlangte, welches von Serbien abgelehnt wurde, und Russland für Serbien Partei nahm, kam es trotz der Bemühungen unseres Kaisers, den Frieden zu erhalten, zur Kriegserklärung. Da wir Deutschen aber mit Österreich seit langer Zeit ein Bündnis hatten, so war Deutschland verpflichtet, in diesem Krieg an Österreichs Seite zu treten. Nicht genug, dass Serbien und Russland uns in Krieg verwickelten, sondern es kamen auch noch nach einigen Tagen Frankreich und England unter einem haltlosen Vorwand hinzu, wie sich später aus gefundenen Akten feststellen ließ, wegen eines unter diesen Mächten lange vorher geschlossenen Vertrages, worin Frankreich an Deutschland Revanche nehmen und England das empor blühende Deutschland vernichten wollte. Da nun Eile not tat, wurde gleichzeitig mit der Kriegserklärung die Mobilmachung befohlen. Damit gingen für mich die Sorgen an, da Johannes und Heinrich noch beide im militärischen Alter sind und namentlich Heinrich schon am zweiten Tag fort musste, da er Pionier ist, also einer gefährlichen Waffe angehört. So habe ich mich viel um ihn gesorgt, zumal wir zusammen leben und ich, so Gott will, mein Leben bei ihm beschließen möchte. Bis jetzt ist uns der liebe Gott gnädig gewesen und hat ihn mir erhalten. Obgleich er nach vorherigen Gefahren und Strapazen am 20. Oktober an schwerem Typhus erkrankte, hat er trotzdem die Krankheit gut überstanden, so dass er am 24. April wieder zur Front in Frankreich zurückkehren konnte, wo er sich, wie er uns schreibt, wohl befindet. Nicht soviel Sorge habe ich um Johannes. Derselbe ist ja Landmann und weil sein Herr gleich fort musste, so wurde für ihn reklamiert, damit die Landwirtschaft nicht stilliegen darf, erhielt er gleich ¼ Jahr Urlaub, und als diese Zeit abgelaufen war, wird die Zeit bis jetzt immer auf 6 Wochen verlängert. Mit Beginn des Winters kam aber für mich eine schwere Zeit. Nach anfänglichem Wohlbefinden erkrankte ich einige Zeit vor Weihnachten, wie ich anfänglich glaubte, an Erkältung. Später stellte sich aber heraus, dass es Influenza war, hatte aber zulange gewartet, bis ich Hülfe in Anspruch nahm. Infolge dessen wurde es so schlimm, dass ich schon glaubte, meine Stunden wären dahin. Was ich diese Zeit über ausgestanden habe, ist nicht zu beschreiben. Meine Hülfe mag gern ausgehen und so war ich fast jeden Abend allein. Krank sein und sich selbst überlassen sein ist eine schwere Aufgabe, die nicht leicht zu tragen ist. In solchen Fällen wird man ordentlich gewahr, was es tut, wenn man keine liebende Person um sich hat. Möge der liebe Gott mir, wenn meine Stunde gekommen ist, doch nicht solch langes Krankenlager bescheren.
Viele Sorge habe ich auch um Auguste und ihre Kinder. Ihr Richard ist ja auch eingezogen und mit ihm auch viele seiner Gäste. Dadurch ist das Geschäft sehr heruntergekommen und die Miete und die sonstigen Ausgaben sollen man da sein. Möge dieser Krieg doch bald ein Ende nehmen, denn auf die Länge wird sie es wohl kaum aushalten können. Anders ist es mit Dora, deren Hermann auch eingezogen ist. Die schlägt sich wohl durch, weil ihr Geschäft durch den Krieg nicht in dem Maße gelitten hat. Wir wollen hoffen, daß dieser mörderische Krieg bald zu Ende ist und unsere Lieben alle gesund und wohlbehalten nach Hause zurückkehren, das walte Gott.
Schon ist das Jahr 1915 bald zu Ende und noch immer ist der schreckliche Krieg nicht vorbei. Trotz der vielen und großen Siege der verbündeten Deutschen und Österreicher und neuerdings auch der Bulgaren denken unsere Feinde noch nicht an Friedensschluss und deshalb lebt man beständig in Sorgen um seine Lieben, derweil Heinrich und Richard alle Strapazen des Krieges durchmachen müssen. Heinrich ist in Frankreich in den Argonnen und hatte am Ende des September Monats unter dem Trommelfeuer der Franzosen bei der großen Offensive schwer zu leiden gehabt. Richard ist in Russland, wo es auch sehr hart hergeht. Wenn man dergleichen liest oder hört, so kommt man weder Tag noch Nacht zur Ruhe. Immer plagt man sich mit dem Gedanken, wie soll's wohl werden, sollten sie wohl Glück haben und gesund heimkehren. Bis jetzt hat der liebe Gott sich mir gnädig erwiesen und hat sie mir gesund erhalten. Noch nicht genug an diesem, wurde ich noch am 27. Oktober durch den Tod meiner Schwägerin Sophie in Trauer versetzt. Dieselbe verschied fast unerwartet nach nur eintägiger Krankheit. Obgleich sie schon längere Zeit vorher von einer Art Schwindelanfällen befallen wurde, glaubten wir doch nicht, daß sie so rasch daran zu Grunde gehen würde, aber unser Gott hat es besser eingesehen und hat sie zu sich genommen, ohne dass sie ihre Söhne wieder gesehen hat. Die beiden Älteren stehen im Felde und Carl ist in England interniert und so haben wir sie denn am 1. November in Ohlsdorf zur Ruhe gebracht.
Damals ahnte ich noch nicht, dass mir ein noch größerer Verlust durch den Tod meines einzigen noch lebenden Bruders bevorstand. Derselbe war am 1. November, als ich zuletzt in Hamburg war, noch ziemlich gut zuwege, obgleich er damals, wie sich später herausstellte, den Krankheitskeim schon in sich getragen hat, hatte noch Lust zu scherzen, obgleich seine Frau schon sehr besorgt um ihn war, weil ihm das Essen nicht so schmeckte wie sonst und wenn er etwas gegessen hatte, bekam er gleich Beschwerden. Dazu kam noch, dass er sehr stark abmagerte, deshalb wurde ihm sowohl von seiner Frau wie von mir geraten, er möchte doch mal zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen. Nach anfänglichem Sträuben beredeten wir ihn doch, und als ich dann fort ging, gab er mir das Versprechen, nächsten Tags will ich hin zum Arzt. Das hat er dann auch getan. Nachdem der Arzt ihn untersucht hatte, hat er gemeint, es wäre nicht gefährlich, es würde sich leicht wieder bessern. Als er ihn 14 Tage lang behandelt hatte, ist er anderer Meinung geworden und hat ihm geraten, er möchte sich mal an Professor Dr. Denike, den Oberarzt des allgemeinen Krankenhauses wenden. Dort angekommen, riet ihm der Professor, um die Krankheit sicher festzustellen, sich mit Röntgenstrahlen untersuchen zu lassen, welches dann auch geschah. Dabei wurde dann Speiseröhrenkrebs festgestellt. Darauf wurde ihm gesagt, es sollte erst mal ohne Operation versucht werden, ihn zu heilen. Da sich die Krankheit aber sehr rasch verschlimmerte, so wurde schon nach ein paar Tagen zur Operation geschritten und dieselbe am 3. Dezember vorgenommen, welche dann auch gut überstanden wurde. Er muss aber schon zu schwach gewesen sein, denn schon am 4. Dezember abends hauchte er sein Leben aus, fürwahr ein schwerer Schlag für seine Frau wie auch für mich. Wir müssen uns aber trösten und denken: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er“. Nachdem wir am Mittwoch, den 9. Dezember von ihm Abschied genommen hatten, haben wir ihn am Donnerstag, dem 10.Dezember unter einer großen Beteiligung in Ohlsdorf zur letzten Ruhe gebettet. Es war ein schwerer Tag für uns. Es ist fürwahr nicht leicht, einen Lieben, der einem im Leben so nahe gestanden hat, durch den Tod zu verlieren. Ruhe sanft, du Lieber, bald sehen wir uns im Himmel wieder, das gebe der liebe Gott.
Es scheint, als wenn mich das Schicksal in diesem Winter wieder besonders heimsuchen will. Nachdem ich schon diesen Herbst 2 meiner Lieben, nämlich meine Schwägerin Sophie und meinen einzig noch lebenden Bruder Hermann durch den Tod verloren habe, erhielt ich schon Weihnacht durch Johannes Nachricht, daß seine Frau, meine liebe Schwiegertochter Maria, leidend sei. Sie hätten schon 2 Ärzte zu Rate gezogen, die beide geraten hätten zu einer baldigen Operation, wozu sie sich aber nicht entschließen könnte. Danach habe ich ihr geschrieben und sie gebeten, wenn die Ärzte dazu geraten hätten, so möchte sie sich doch dazu entschließen, ehe es vielleicht zu spät ist. Sie möchte sich nur an einen tüchtigen Arzt wenden, so wäre es vielleicht jetzt noch nicht so schlimm. Nach diesem Schreiben scheint sie sich nun entschlossen zu haben, denn Johannes schrieb mir vor einiger Zeit, daß er mit ihr zu einem der ersten Frauenärzte, einem Professor Dr. Holzapfel gewesen wäre. Der hätte geglaubt, bei sehr sorgfältiger und guter Behandlung es noch ohne Operation zu heilen Sie möchte sich nach ungefähr 3 Wochen wieder untersuchen lassen, dann würde es sich zeigen, was werden muss. Also lebt man diese Zeit wieder in banger Sorge. Dazu kommt noch die Sorge um die beiden Soldaten Heinrich und Richard, die beide bös heran müssen und täglich der Gefahr des Erschießens oder Verstümmelns ausgesetzt sind . Man wird die schlechten Gedanken niemals los, fast Tag und Nacht muss man sich damit abquälen, fürwahr keine leichte Sache. Wenn nur der mörderische Krieg man erst zu Ende wäre, so wird man doch wohl etwas ruhiger. Es ist ja aber immer noch kein Ende abzusehen.
den 19. April 1916
Schon wieder ist ein Jahr vergangen und zwar das vierte, wo meine liebe
Frau mir durch den Tod entrissen wurde. Welche böse Zeit habe ich jetzt
schon hinter mir, immer ist man allein und mit keiner lieben Seele kann
man sich aussprechen, es ist mitunter kaum zum Aushalten. Wenn nicht
Heinrichs beiden Kinder hier wären, womit man sich ein bisschen
unterhalten kann, so wüsste ich nicht, wie es mir dann ginge. Im Winter,
wo die Witterung rauh und kalt war, konnte ich nicht ausgehen und dann
sitzt man und grübelt und man weiß nicht, was man machen soll. Dazu
kommt noch, dass der böse Krieg immer noch nicht beendet ist, woran auch
meine Lieben, Heinrich, Hermann, Richard und neuerdings auch mein Enkel
Gustav stark beteiligt sind. Wenn man die Gedanken herum gehen lässt, so
kommt man nicht leicht wieder zur Ruhe. Immer denkt man daran, ob sie
sich wohl noch wohl befinden. Bis jetzt hat der liebe Gott sich mir noch
gnädig erwiesen und hat sie mir noch gesund erhalten, wer weiß aber, wie
lange noch. Möchte den lieben Gott bitten, dass er bald ruhige Zeiten
eintreten lässt und er sie mir alle gesund und wohl heimkehren lässt.
Dass man den letzten Teil seines schicksalsreichen Lebens in etwas mehr
Ruhe verleben kann, das gebe der liebe Gott.
Heute, am 1. Juli 1916, sind es 52 Jahre, als meine liebe Frau und ich als ein Paar liebende und glückliche Menschen sich die Hände für den Lebensbund reichten. Welche schönen Tage waren es, die wir beide zusammen verlebt haben gegen jetzt, wo ich nach dem am 29. April 1912 erfolgten Tode meiner lieben Frau einsam und verlassen durchs Leben wandle. Wer sich das nicht versucht hat, hat keine Ahnung, wie einem mitunter zu Mute ist und doch muss man in seinem Schmerz um den Verlust seiner Lieben nicht verzagen, sondern sich aufraffen, wenn's auch mitunter schwer wird, und den lieben Gott bitten, dass er einen bis ans Lebensende gesund erhält und einem kein langes Krankenlager beschert, das gebe der liebe Gott.
Nach einem regnerischen und kalten, voller Sorgen um meine lieben Soldaten verlebten Sommer, erhielten wir in der 2ten Hälfte des Septembers vom Companieführer und von Kameraden die unerfreuliche Nachricht, dass mein lieber Schwiegersohn H. Schwabe, welcher bei der Maschinengewehr Companie des Regiments Nr.214 an der Somme mitkämpfte, seit dem 17. September von einem schweren Gefecht nicht zurückgekehrt sei und seit dem Tag vermisst würde. Der Oberleutnant schrieb, es wäre wohl die Möglichkeit vorhanden, dass er in französische Gefangenschaft geraten sei, jedoch wäre die Hoffnung nur sehr gering. Alle Bemühungen meiner Tochter Dora, etwas Näheres über ihren Mann zu erfahren, waren anfänglich vergeblich, bis endlich am 17. Oktober die selbstgeschriebene Nachricht bei ihr eintraf, dass er gesund und unverwundet in französische Gefangenschaft geraten sei und es ihm bis jetzt gut ginge. Eine erfreuliche Nachricht für uns alle, ist jetzt doch die Möglichkeit vorhanden, dass er uns erhalten bleibt. Auch unser Heinrich und Gustav haben diese Zeit schwer leiden müssen, sind uns aber bis jetzt, Gott sei gedankt, gesund erhalten. Diese beiden sind nämlich in der Gegend Douaumont-Vouse, wo die Franzosen vom 22. - 27. Oktober versuchten, die deutsche Front zu durchstoßen, welches ihnen trotz heftigem, fast vier Tage anhaltendem Trommelfeuer und Infanterie-Angriff nicht gelungen ist. Freilich haben die Deutschen nach erbitterten Kämpfen ihre Front zurück verlegen müssen, aber weiter ist es nicht gekommen. Hoffentlich holen sich die Deutschen das verlorene Gelände, wenn nicht anders, so durch heftigen Kampf, wieder. Der liebe Gott gebe es, dass bei diesen und ferneren Kämpfen mir meine beiden Lieben gesund und wohlerhalten bleiben, dass sie in nicht zu ferner Zeit mir gesund und wohlgemut heimkehren zu meiner und unserer aller Freude.
Wenn man jetzt am Schlusse des Jahres 1916 zurück blickt und sich alles noch mal an einem vorüber gehen lässt, so kann man doch sagen: Der liebe Gott ist mir doch gnädig gewesen, freilich habe ich stark leiden müssen. Meine Soldaten, namentlich Heinrich und Gustav, haben mir sehr viele Sorgen gemacht, denn diese beiden waren immer an den schweren Kämpfen bei Verdun beteiligt, namentlich hat Heinrich hier furchtbar leiden müssen. Er ist nämlich dort einmal mit 80 Mann in Stellung gegangen und ist nach einiger Zeit mit nur 19 Mann wieder zurück gekommen. Zum Zeichen seiner Unerschrockenheit und Tapferkeit wurde er für diese Tat mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet, auch wurde er zum Unteroffizier befördert. Ein anderes Mal waren 30 Mann in Stellung, hatten sehr stark unter Trommelfeuer zu leiden und als dasselbe beendet war und sie mal aussahen, wurden sie gewahr, daß der Feind ganz in der Nähe und nur 40 - 50 Meter entfernt war. Bei den sich dann entwickelnden Kämpfen kam nur ungefähr die Hälfte der Mannschaft mit heiler Haut davon. Zu diesen gehörte Heinrich. Nachdem der Leutnant und der Feldwebel und fast alle Unteroffiziere teils gefallen, teils verwundet worden waren, war Heinrich schließlich der alleinige Unteroffizier und unter seiner Leitung wurde die Stellung gehalten und auch so lange behauptet, bis nach ein paar Stunden Hülfe kam. Für diese Tat sollte er das Eiserne Kreuz I. Klasse bekommen. Sein Feldwebel, welcher gar nicht beteiligt gewesen ist, hat es aber für sich in Anspruch genommen. Auch Gustav hat immer als Fahrer bei einer Maschinengewehr-Abteilung an vielen Kämpfen mit teilgenommen und ist auch mit dem Eisernen Kreuz dekoriert worden.
H. Schwabe kam am 17. September bei den Kämpfen an der Somme in französische Gefangenschaft. Nach anfänglicher banger Sorge um ihn schrieb er schließlich Mitte Oktober, dass es ihm gut ginge. Dadurch wurde mir die Sorge um ihn etwas erleichtert. Auch Richard, welcher noch immer in Russland weilt, macht uns nicht so viel Sorge wie seine Familie, denn das Geschäft ist fast ganz alle und zu einer 4köpfigen Familie gehört allerlei dazu und wovon leben, wenn keine Einnahmen da sind?
Aus Vorstehendem ist zu ersehen, dass mir in diesem Jahr keine Sorgen und Kümmernisse erspart worden sind. Dazu kommt noch, daß man keine liebende Seele um sich hat. Die meiste Zeit muss ich alleine sein. Wäre Mutter noch hier bei mir, so würde es mir nicht so schwer geworden sein, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Aber der liebe Gott hat es besser für sie eingesehen, sie ist diese Jahre vielem Leid aus dem Wege gegangen, sie ruhe in Frieden.
Auch das Jahr 1917 bringt uns den lang ersehnten Frieden noch nicht, sondern die schweren Kämpfe gehen noch immer in gewohnter Weise fort. Freilich war es für mich eine kleine Erleichterung, dass Heinrich Ende Januar 1917 von einer kriegswirtschaftlichen Berliner Firma (Weys & Freitag) reklamiert wurde, um beim Bau einer großen Munitionsfabrik als Zimmerer mit tätig zu sein. Also war er vorläufig aus der Gefahr, verstümmelt oder gar erschossen zu werden, heraus. Bei dieser Firma arbeitete er bis Ende des Jahres, zuerst in Premnitz in Sachsen, später in Berlin. Aber mein Enkel Gustav und gegen Ende des Jahres auch mein Enkel Johannes mussten tapfer aushalten und namentlich Gustav hat viele Kämpfe mitgemacht. Hermann Schwabe schmachtet noch immer in Gefangenschaft und Richard weilt noch in Russland.
Es sind am 29. April 5 Jahre her, dass mir meine liebe Frau durch den Tod entrissen wurde, welch lange und schreckliche Zeit. Einsam und verlassen geht mein Weg durchs Leben. Wie ganz anders wäre es gewesen, wenn sie mir in dieser schrecklichen Zeit zur Seite gestanden hätte, denn zu allem Kummer um unsere lieben Soldaten kam noch, dass schon seit Anfang des Krieges alle hauptsächlichen Lebensmittel rationiert waren. Anfänglich merkte man es nicht so, da der kleine Vorrat von früher mit verbraucht wurde und auch die Preise noch nicht zu hoch waren, aber allmählich gingen die Preise immer höher, bis sie mit der Zeit fast unerschwinglich waren. Dies alles mitzuerleben, wäre ihr nicht leicht geworden. Deshalb hat der liebe Gott für sie etwas besseres bestimmt und des Herrn Wille geschehe.
In der ersten Hälfte des Jahres 1917 erhielten wir an Amerika noch einen Feind. Da Anfang Februar, um unsere Feinde leichter zu bewältigen, der uneingeschränkte U-Bootskrieg erklärt wurde, fühlte Amerika sich in seinen Interessen geschädigt und erklärte Deutschland den Krieg. Anfänglich merkte man es nicht, denn Amerika hatte kein großes stehendes Heer, aber nach einiger Zeit schickte es so viele Truppen herüber, dass die Entscheidung fallen musste.
Das Jahr 1918 ist das Jahr der Entscheidung des Krieges und sogleich für mich ein schweres Jahr, denn nachdem Heinrich 1917 bei der kriegswirtschaftlichen Firma Weys & Freitag gearbeitet hatte, bekam er Ende des Jahres wegen Mangel an Arbeit seine Entlassung, wurde aber gleich wieder von der kriegswirtschaftlichen Firma Ph. Holzmann reklamiert, um beim Bau eines großen Werkes (Lautawerk) in Oberschlesien wieder als Zimmermann mit tätig zu sein. Bei dieser Firma war er bis Mitte April 1918. Er fühlte sich die letzte Zeit aber krank, so dass er den dortigen Arzt des Werkes in Anspruch nehmen musste, und als derselbe keine Besserung herbeiführen konnte, nahm er dort seine Entlassung und kam am 16. April nach Hause, um sich hier ärztlich behandeln zu lassen. Keiner von uns ahnte damals, was uns mit ihm bevorstand. Auch unser hiesiger Arzt, den wir zu Hülfe nahmen, konnte keine Besserung herbeiführen, obwohl er sich alle Mühe gab. Deshalb riet er Heinrich im Juli, mal einen Spezialarzt zu Rate zuziehen. Das hat er dann auch getan. Auf Vorschlag von unserem Arzt wandte er sich an einen Dr. Sachs in Hamburg, aber auch ohne Erfolg. Freilich stellte derselbe Kehlkopf-. und Lungentuberkulose fest, er wusste aber keine Mittel, dasselbe zu heilen. Im Gegenteil, die Krankheit nahm immer mehr zu und zwar so stark, dass die Sprache fast ganz wegging, er konnte sich schließlich nur noch im Flüsterton unterhalten. Dazu kam noch, dass er mit der Zeit stark abmagerte und auch ständig an Husten und Erbrechen litt, so dass man sich sagen musste, es ist an keine Besserung zu denken . Wir können nur den lieben Gott bitten, ihn nicht zu lange leiden zu lassen. Dieses eben Geschilderte mit ansehen zu müssen, gehört eine besondere Natur dazu, die ich nicht hatte, und doch war kein Weg in Sicht, ich musste alles mit ansehen. Dazu kam noch der Gedanke, es kommt nichts danach, wie lange wird er sich wohl noch quälen müssen. So ging es das ganze Jahr hindurch und auch noch bis 23. Mai 1919, an welchem Tage er morgens in aller Frühe, es war wohl gegen 7 Uhr, verschied. Wahrlich, es war eine böse Zeit, dies Leiden vom 16. April 1918 bis zum 23. Mai 1919 mit anzusehen, man wurde nicht einmal froh.
Auch der Krieg nahm für Deutschland kein gutes Ende. Nach vielen heißen und schweren Schlachten brach am 9. November 1918 eine Sozialistische Revolution aus, deren Anfang in Kiel bei der Marine war. Dieselbe pflanzte sich aber rasch fort und ergriff auch die Armee und infolge dessen war es mit dem Kriegführen zu Ende, derweil bei der Armee viele Leute waren, die einfach nicht mehr mittun wollten. Auch unser Kaiser entsagte seinem Thron und ging nach Holland, wo er und seine Gemahlin seit der Zeit als Privatleute leben, und an seine Stelle wurde in Deutschland ein Präsident eingesetzt, ein gewisser Ebert, soll Sattler von Provision sein, unter dessen Herrschaft wohl vieles zu wünschen übrig bleibt.
Deutschland musste bei seinen Feinden unter den vorerwähnten Tatsachen um einen Waffenstillstand und Frieden ansuchen, damit die Feinde nicht nach Deutschland herein kämen und auch unser Land verwüsten. Nach anfänglichem Sträuben willigten unsere Feinde schließlich ein, legten uns Deutschen aber so schwere Bedingungen auf, die nur mit äußerster Anstrengung zu erfüllen sein werden, und doch musste Deutschland einwilligen, da kein Weg umhin war. Da nun seit Ausbruch der Revolution reichlich ein Jahr vergangen ist, ist der Friede doch noch nicht herbeigeführt, denn dazu sind 3 Unterschriften unserer Feinde erforderlich und Frankreich weigert sich bis jetzt unter allerlei Vorwänden zu unterzeichnen, überhaupt weigert es sich bis jetzt, unsere Gefangenen auszuliefern, wovon ein großer Teil in den zerstörten Gebieten arbeiten muss.
Am 19. April 1919 waren es 7 Jahre, daß meine liebe Frau das Zeitliche segnete, welche lange und schreckliche Zeit für mich, aber wie schön für sie, dass sie die Leidenszeit der letzten Jahre nicht miterlebt hat, namentlich Heinrichs Leidenszeit würde sie wohl kaum ertragen haben, sie ruhet in Frieden.
Hier endet der Bericht des Halbhufners Johann Scharnberg darüber, wie es ihm und den Seinen damals ergangen ist. Er starb am 08.03.1927 im Alter von 86 Jahren. Seinen 43 ha Hof hat er am 29.03.1895 an seinen Sohn Friedrich Scharnberg abgegeben. Dieser bewirtschaftete den Betrieb vom 29.03.1895 bis zum 30.09.1929.
Danach übernahm dessen Sohn Gustav Scharnberg den Hof und führte ihn vom 30.09.1929 bis zum 12.07.1958. Danach hat mein Bruder, Richard Scharnberg, den 37,73 ha Betrieb von meinem Vater übernommen. Am 01.08.1989 übergab er den Hof mit jetzt 42,5 ha an seinen Sohn Reinhard Scharnberg. Reinhard hat den Betrieb inzwischen durch Heirat und Zukauf auf 90 ha Eigenland erweitert, dazu kommen noch 50 ha Pachtland, so dass er jetzt insgesamt 140 ha bewirtschaftet.
Der Hof befindet sich in der Ortsmitte von Trittau gegenüber der Kirche immer noch an der Stelle, an der unsere Vorfahren bereits seit Jahrhunderten ansässig waren.
Trittau, den 12. April 2003