Abenteuer Brasilien

Wahre Begebenheiten aus alten Briefen nacherzählt von Elke Langner.

Trittau 1866, Besuch von João

Man schreibt das Jahr 1866.
In das beschauliche Leben des Dorfes Trittau ist Unruhe eingekehrt: Der reiche Vetter aus Amerika ist zu Besuch bei der Rademacherfamilie Scharnberg.
Johann Joachim Christian Scharnberg - in Brasilien nennt man ihn „João“ nach dem portugiesischen Wort für Johann - erzählt, und vor allem die Söhne des alten Rademachers hängen an seinen Lippen und können gar nicht genug erfahren über das fremde Land. Marx, 19 Jahre alt, ist aber auch in Gedanken bei seinem älteren Bruder Johann. Der ist auf Wanderschaft, wie es sich für einen Handwerker gehört, der seine Lehre beendet hat. Aber was Johann in seinen Briefen schreibt über die Lage in Deutschland klingt wenig ermutigend. Nirgends gibt es genug Arbeit für einen Rademacher; und wenn man eine Anstellung findet – bei Hannover, in Oschersleben, Lauban, Posen – wird sie schlecht bezahlt. Einen Thaler in der Woche; da kann er für das Geld auch in Hamburg in der Gastronomie arbeiten so wie Bruder Adolph, 17 Jahre alt. Der hatte voriges Jahr im Bierkeller in Hamburg Weißbierflaschen gespült. Adolph hatte es natürlich geschafft, dort auf dem ersten Platz zu stehen und bekam monatlich 7 Thaler und 5 Thaler Trinkgelder dazu. Na ja, das war nur so für die Übergangszeit; seit Johanni dieses Jahres hat er - so wie sie alle - eine Rademacherlehre begonnen. Sein Meister ist Kruse am Gänsemarkt in Hamburg.

So wie sie alle? Ach nein. Marx dachte an Fritz. Sein 15jähriger Bruder macht diesen Sommer Dienst beim Oberförster in Trittau. Aber auch Förster König wird ihn wohl nicht länger brauchen können. Fritz war das letzte Kind, das die Mutter geboren hatte bevor sie diese tödliche Auszehrung bekam. Und Fritz war schon immer anders gewesen und hatte sich nicht so entwickelt, wie sich Eltern das wünschen. Ihr Vater klagte, er arbeite zwar Holz aus, aber zusammen mache er gar nichts. Später stellte man bei ihm einen Herzfehler fest und eine Lungenkrankheit. Er würde wohl nicht mit nach Brasilien kommen können; denn dorthin wollte er, Marx. - Jedenfalls, wenn Adolph mitkäme. Na ja, wenigstens bleibt Fritz der Militärdienst erspart.

Der Militärdienst, das war ein Thema, das Marx nächtelang nicht schlafen ließ. Sie hatten ihn noch vor sich: Johann musste sich stellen, wenn er von der Walz zurück war, und auch Adolph und er würden nächstes Jahr „ausgehoben“ werden. So nannten die das, wenn man zur Musterung berufen wurde. Aber das Soldatenleben war eine Art von Abenteuer, das sie alle in der Familie nicht erleben wollten. Wenn der Vater die Meldungen aus der Eisenbahnerzeitung richtig deutete, lief es wohl auch schon wieder auf einen Krieg zu. Gerade vor drei Tagen wurde geschrieben, dass die Jahrgänge 1841 und 1842 zu sechs Monaten eingezogen werden, die Burschen des Jahrgangs 1843 sollen schon 1 ½ Jahre dienen und die der Jahrgänge 1844 und 1845 müssen dauerhaft im Militärdienst bleiben. Das bedeutet, dass sie alle aus ihren Zukunftsplänen Brasilien streichen können!

João wendet sich an seinen Onkel, den alten Rademacher: „Johannum, deine Söhne sind tüchtig und erlernen ein Handwerk. Solche Leute werden drüben bei uns in Rio Grande do Sul gebraucht. Das Leben ist billig, man kommt mit nur 4 Pfennig am Tag für Essen und Trinken aus. Und zu verdienen gibt es in allen Bereichen genug. Seht mich an: Ich bin zwar kein Handwerker, sondern Kaufmann. Aber auch ich habe es geschafft. 23 Tausend Mark – das sind bei uns – lass mich rechnen: 11.500 Milreis oder 11,5 Conto de Reis - habe ich dabei und noch für 30 Tausend Mark Kredit. Ich werde für etwa 60 Tausend Mark hier in Europa Waren kaufen und mit rüber nehmen: Winterröcke, lederne Pantoffeln und vor allem viel Silbergeschirr für die Pferde. Nach meiner Kalkulation kann ich sie dort mit 20 Tausend Mark Gewinn verkaufen. Rudolph ist noch drüben geblieben in Brasilien. Auch er hat viel Geld verdient. Das haben wir unserem Vater zu verdanken, der hat uns den Handel gelehrt: Onkel Johannum, du kennst ihn ja. Vater weiß genau, wo es die besten Klafter Holz aufzukaufen gibt hier in Trittau und wie man sie mit gutem Gewinn wieder verkauft. Mein Bruder Rudolph will in etwa drei Jahren kommen und dann hier für 16 bis 20 Tausend Mark einkaufen. Aber er sagte noch, ich solle deinen ältesten Sohn Johann auf jeden Fall mit nach Südamerika bringen, wenn ich Weihnachten zurückfahre. Von hier will ich noch nach Paris, und dann geht`s mit einem modernen Dampfschiff über den Atlantik“.

„Vetter João, bis Weihnachten kann ich noch gut was lernen, und dann möchte ich mit“, meldete sich Adolph zu Wort. „Du wolltest doch deine Lehre fertig machen und außerdem – wie willst du vom Militär frei kommen?“ gab Marx zu bedenken. „Ach, da finde ich schon einen Weg - und wenn ich mir dafür den linken Daumen kürzer hacken muss.“

Überall, wo João zu Besuch war und von seiner neuen Heimat schwärmte, weckte er Sehnsüchte nach dem fremden Land. Aber nicht nur Trittauer waren infiziert vom Brasilien-Fieber. Auch in Hamburg, wo João seine Schwester Catharina besuchte, fand er interessierte Zuhörer. Catharina Elisabeth Scharnberg hatte den Schneider Bohmgahren geheiratet. Aber mit dem Geld, das er mit der Schneiderei verdiente, konnte die vielköpfige Familie nicht ernährt werden. Immer wieder brachte ihr Mann in den nächsten Monaten das Thema Auswanderung zur Sprache. Aber für Catharina war das kein Weg. Für sie gab es keinen Weg – solle er doch allein mit den Kindern nach Südamerika ziehen. Im Juli 1867 stürzte sie sich aus dem Fenster und war nach 1 ½ Stunden tot.

Überfahrt nach Brasilien, Ankunft in Alegrete

„Na, da sind sie ja endlich. Wird auch allmählich Zeit. Von mir aus hätten sie schon vor Wochen hierher kommen können, aber der Luschke in Pelotas wollte sie wahrscheinlich nicht ziehen lassen“. João war seinen Cousins Marx und Adolph von Alegrete aus eine Legoa entgegen geritten. Nun sieht er, wie die von den Ochsen gezogene Karrette langsam näher kommt. Als er die Passagiere darinnen erkennen kann, erschrickt er. Sind das die beiden kräftigen Jungen, von denen er sich vor 1 ½ Jahren in Trittau verabschiedet hatte? Mager sind sie geworden.

„Sieh mal, da vorn, ist das nicht Vetter João?“
„Ja, Marx, das sieht so aus. - Hey, Vetter, das ist ja nett, dass du uns entgegengekommen bist. Ein schöner Empfang“.
„Hallo Jungs, wartet erstmal bis heute Abend: Ich gebe euch zu Ehren eine Gesellschaft. Da könnt ihr auch gleich euern neuen Meister kennenlernen. Ich habe schon eine Stelle für euch besorgt.“

João spricht kurz mit dem Karrettero und der Wagen hält in Alegrete direkt vor Joãos Haus, einem Prachtbau am Osoria Platz. Adolph pfeift anerkennend durch die Zähne. Ja, das ist so das Kaliber, was er sich für sich selber auch vorstellt in ein paar Jahren.

Nachdem Marx und Adolph beim Essen kräftig zugelangt haben, sitzen sie nun alle zusammen. „Wie ich sehe, hat euch mein Essen geschmeckt. Ist was anderes, als sieben Wochen lang in der Karrette nur zweimal am Tag essen – und dann nur schwarze Bohnen mit Speck, nicht? Aber trotzdem wird man doch nicht so mager davon – vor allem du, Adolph, hattest in Trittau mehr auf den Rippen“.
„Ach, Vetter João, jetzt ist Adolph ja schon wieder gut genährt. Du hättest ihn in Pelotas sehen sollen: Adolph hatte die Blutruhr und musste vier Wochen ins Krankenhaus. Als ich ihn dann da wieder abholen konnte, war er nur noch ein Gerippe“.
„Stimmt – aber Marx hatte sich eine Flinte gekauft und uns Tauben und Rebhühner geschossen. Die haben wir gegrillt und so hat er mich wieder aufgepäppelt“.
„Deshalb seid ihr also nicht eher gekommen? Und ich dachte schon, der Guilhermo Luschke läßt euch nicht aus seinen Klauen“.
„Na ja, der hätte uns schon gerne noch da behalten. War ja auch gute Arbeit, die wir bei ihm zu tun hatten – Wagenbau, genau das richtige für Rademacher. Nur die Umstellung auf die harten Tropenhölzer machte uns anfangs zu schaffen.“
„Da werdet ihr euch hier in der Provinz aber umstellen müssen. Hier braucht man keine Kutschen. Hier wird nicht – wie in den Städten an der Küste – spazieren gefahren, sondern geritten. Hier bei uns werden Häuser gebaut. Zimmerleute und Tischler sind gefragt. Deshalb könnt ihr eure Lehre auch bei einem Tischlermeister machen – natürlich dem besten Mann hier im Ort. Und eine Pferdebahn wie in Pelotas oder Porto Alegre haben wir hier auch nicht als Vergnügung. Bei uns gibt ab und zu einer der Deutschen abends eine Gesellschaft. Das ist unsere Abwechslung vom Alltag.“
Marx und Adolph sahen sich an. Natürlich wollten sie arbeiten und Geld verdienen. Aber das Junggesellenleben in Pelotas hatte ihnen schon behagt. Und sie waren froh gewesen, nach dem unglücklichen Start in Brasilien dann doch gleich bei Luschke untergekommen zu sein.

„Wieso unglücklicher Start; und wie war denn eure Reise von Trittau?“ Wollte João wissen. Marx erzählte: „Vater und Johann begleiteten uns bis Hamburg. Wir Brüder gingen nebeneinander her. Unser Vater war schon bedrückt, aber er wollte es nicht so zeigen. Adolph, du gingst in der Mitte und bist ja etwas größer als Johann und ich. Und als Vater von hinten unsere Silhouetten sah, meinte er scherzhaft: ‚Sieh mal, wie das Hamburger Wappen’.“
„Habe ich gar nicht mitbekommen. Ich hatte mich mit Johann über unser Schiff unterhalten. Er meinte, er würde lieber mit einem Dampfer fahren als mit einem Segler, so wie unsere ‚Eitea’ einer war. Drei lange Monate waren wir auf See. Und mit einem Dampfer wäre uns diese missglückte Ankunft auch erspart geblieben.“
João ahnte, wovon die beiden sprachen: „Die Strömungen an der Küste bei Rio Grande sind tückisch, ich weiß. Wenn die Winde ungünstig sind, müssen die Segler manchmal vor der Barre wochenlang kreuzen, bevor sie in den Hafen einlaufen können. Ist euch das etwa auch passiert?“
„Schlimmer, Vetter João. Beinahe wäre es um uns geschehen gewesen: Unser Käptn hat die ‚Eitea’ auf Grund gesetzt – wir sind an der Sandbank gestrandet. Da standen wir dann alle in klatschnasser Kleidung und unserem gesamten Gepäck am Strand, und durften die ganze Strecke bis Rio Grande zu Fuß laufen“.

Mit an Bord der Eitea waren auch die Brüder Hermann Bohmgahren, 13 Jahre, und August Bohmgahren, 11 Jahre. Das Geld für die Überfahrt hatte ihnen ihr Onkel João gegeben. Im November 1872 fuhr dann ihr Vater mit den Geschwistern Louise und Emil nach Rio Grande do Sul. Reich geworden sind sie aber nicht in ihrer neuen Heimat. Nachdem Vater Bohmgahren sich nach drei Jahren Arbeit in Alegrete 600 Milreis erspart hatte und sich nun das Geld von João auszahlen lassen wollte, um damit nach Porto Alegre zu ziehen und die jüngsten Kinder herüberkommen zu lassen, erhielt er von seinem Schwager nur ein Zehntel davon zurück. Verbittert meinte er: „Auf diese Art können Leute reich werden. João ist 80 000 Milreis reich und immer noch nicht genug. Jetzt bin ich wieder arm wie vorhin“.

Sein Sohn John, Schusterjunge, kam dort nicht zurecht und lebte über seine Verhältnisse. Er hatte sich bei Onkel João einquartiert, dem der Lebensstil seines Neffen allerdings sehr missfiel. Im November 1889 kam es wieder mal zum Streit. João warf John seine Trinkgelage und Spielleidenschaft vor und warf ihn raus. John ging in den Garten - und schoss sich eine Kugel ins Herz.

August Bohmgahren überlebte seinen Bruder John nur um ½ Jahr. Dabei ließ es sich für ihn gut an. Er hatte mit anderen zusammen eine Bierbrauerei in Uruguayana aufgebaut. Sein Onkel João hatte das Projekt unterstützt mit über 2.000 Milreis. Dann der Bankrott! Alles war verloren. Rudolph sprang ein, bot seinem Neffen den Posten eines Buchhalters in seiner Firma an. 18 Monate lang versuchten die beiden es miteinander, dann ging August im Streit zurück nach Uruguayana, wo er verarmt und krank starb.

Reise von Christian Selk und Heinrich August Scharnberg

Die Söhne des alten Rademachers hatten es also nach Brasilien geschafft. Während dessen kämpften Carl Möller und die Söhne vom Onkel Daniel, Rudolph und Hinrich Scharnberg, im Krieg gegen die Franzosen. Hinrich hatte sogar vor Paris schon eine Kugel durch die Hose gekriegt; mit viel Glück war er aber unverletzt geblieben. Aber wie waren die Rademacher dem Militärdienst entkommen?
Für Johann, den ältesten, reichte ein gekrümmter kleiner Finger und eine Bindegewebsschwäche, um „untauglich“ zu sein. Adolph hatte sein Vorhaben in die Tat umgesetzt: Acht Tage vor Pfingsten 1867 schlug er sich selber den vorderen Teil des linken Daumens ab, um bei der bevorstehenden Musterung frei zu kommen. Elf Wochen später war die Hand immerhin so weit geheilt, dass er wieder arbeiten konnte.
Marx reichte ein Gesuch ein auf Erlaubnis, sich für 1 ½ Jahre in Brasilien aufhalten zu dürfen. Die Antwort aus dem Schloss Reinbek kam im Herbst 1867, als er bereits auf hoher See war: Abgelehnt! Er sollte sich zur Militäraushebung einfinden. Von einer Strafe kam er dennoch frei, denn später gab es einen Erlass, nach dem alle straffrei ausgingen, die sich vor Dezember 1866 außer Landes befunden hatten. Das traf auf Marx zu – nach seiner Aussage und der von zwei Zeugen in Altona.

Auch den jüngsten Sohn vom alten Rademacher Scharnberg aus der Ehe mit seiner zweiten Frau, zog es nach Brasilien. Gemeinsam mit dem unehelichen Sohn seiner Mutter, Christian Selk, fuhr Heinrich August als 17jähriger nach Südamerika. Bei Heinrich schlug das Gesetz erbarmungslos zu, weil er sich der Musterung entzogen hatte: Er war mit Christian Selk zusammen seinen Brüdern nach Alegrete gefolgt; das brachte ihm später eine Strafe von 150 Mark ein zuzüglich 50 M. Gebühren und Zinsen der Sparkasse.

Am 5. Juni 1877 hatte ihr Schiff „Bahia“ von der Veddel in Hamburg abgelegt, doch schon in Trittau hatten Heinrich und Christian von ihrer Mutter Abschied genommen. Im letzten Augenblick drückte sie Heinrich 100 Reichsmark in die Hand. „Mutter, woher hast du das?“ fragte er. „Den habe ich von meinen Verwandten, es ist das Einzigste und das Letzte was ich Euch geben kann. Es tut grad nicht nötig, daß du Vater ihn zeigen tust."

Baugesellschaft Gebrüder Scharnberg, Heirat Adolph und Adelaide

„So geht das nicht weiter!“ Adolph schob seinen Teller weg und sah seine Brüder an. „Johann, du stocherst auch nur im Essen.“ –
„Jo -, Dag för Dag gifft dat ok jümmers dat glieke to eeten.“ Marx sprang Johann zur Seite:„Ja Adolph, Johann hat Recht. Unser Grundsatz war immer, gut essen und trinken – und was übrig bleibt, wird erspart.“
„Genau das meinte ich eben. Nun haben wir nacheinander schon mehrere Köchinnen gemietet, aber diese gelben Brasilianerinnen verstehen aus einem geschlachteten Schwein oder einer Kuh nichts zu machen. Außer etlicher Wurst haben wir doch von unserem Schwein nichts gehabt. Das andere können wir uns alles denken.“
„Aber diesen brasilianischen Koch, den wir vorher hatten, den konnten wir doch auch vergessen!“
„Dat wer een ollen Suupkopp.“
„Und wenn wir abends von der Arbeit nach Hause kamen, fing er erst an, das Essen aufzusetzen. Als wir anfangs im Hotel gegessen haben, damals, bevor Johann kam, das hat geschmeckt.“
„Stimmt, Marx, aber viel Geld haben wir dafür auch ausgegeben, eine Unze pro Monat! Deshalb haben wir dann ja bei der deutschen Klempnerfamilie mitgegessen.“
„De Fru kunn bannig goot kocken! Dat wor as wi bi Muddern. Schad, dat wi dor nich mehr eeten dörvt.“
„Wisst ihr noch, wie sie uns das sagte: ‚Wegen Mangel an Überfluss können wir das nicht mehr fortsetzen...‘. Als ob wir nicht bezahlt hätten fürs Essen.“
„Een vun uns mutt heiraden.“ –
„Johann, du bist der Älteste von uns. Nach der Tradition müsstest du als erster ran.“
„Nee, ik tööf nochn beeten. Ik wull ook wedder trüch no Trittau, dat hev ik uns Vadder toseggt. – Marx, wat is mit di?“
„Och, für die Ehe hab ich hier noch keine gefunden.“
„Wat? In Alegrete sünd 4.000 Lüüd, veele Öllern mit heiradsfähige Döchter. Dor mutt doch wat dorbi sien!“
„Da käme höchstens eine von Schmitts Töchtern in Frage. Aber dem Alten ist doch noch keiner gut genug gewesen. Allerdings sieht es so aus, als ob Adolph Chancen hätte. Es heißt, du seist nächste Woche dort eingeladen, Bruder?“

Tatsächlich wurde nicht lange danach die Verlobung von Adolph mit Adelaide Schmitt bekannt gegeben. Die Schmitts zählten zu den angesehensten Familien von Alegrete. Christian Schmitt hatte sich mit seinen Lederarbeiten einen guten Ruf erworben und viel Geld verdient. Und das, was Adolph und seine Brüder in den vergangenen Jahren erreicht hatten, nötigte ihm Respekt ab: Nachdem Marx und Adolph 2 ½ Jahre bei dem Tischler Veinant gelernt hatten, kauften sie sich ein Haus an der Hauptstraße und machten sich selbstständig. In erster Linie bauten sie Häuser. Alles, was mit Holzarbeiten zu tun hatte, machten sie selber: Vom Dachstuhl über Balkone, Fenster und Türen, Decken, bis zu den Fußböden. Sie waren Zimmermann, Tischler, Drechsler und Glaser in einer Person. Nebenbei handelten sie mit Holz und Brettern; damit war noch am meisten und am leichtesten Geld zu verdienen.
Im Frühjahr 1873 war dann ihr Bruder Johann endlich nach Alegrete gekommen. Er hatte nach seiner Ankunft in Rio de Janeiro im Oktober 1869 in der ersten Wagenfabrik des Landes gearbeitet. Im Februar des kommenden Jahres griff in der Stadt das Gelbfieber um sich, und Johann flüchtete – auch vor der tropischen Hitze des brasilianischen Sommers – nach Pelotas. Wie genoss er auf der Fahrt das kühle gesunde Klima, welches er seit Monaten entbehrt hatte; und dann die schöne ebene Grasfläche auf beiden Seiten des Flusses, wo tausende von Ochsen weideten, welche von weit hinter Alegrete, ja sogar aus Paraguay hingebracht wurden. Es waren bei Pelotas an die 100 großen Schlachtereien, in denen gewöhnlich 50.000 Ochsen geschlachtet wurden, das Fleisch wurde getrocknet, und dann verschickt weit und breit.

Noch mehr als das Klima erfreute ihn das schöne Fleisch und die Kartoffeln, die er auch seit vier Monaten entbehrt hatte. In der Fabrik von Schmied Luschke fand er Arbeit und blieb gerne dort. Er konnte als Stellmacher arbeiten und verdiente gut: „4-5 Milreis pro Tag, ungefähr im Monat zwischen 90-100 Milreis, wovon ich etwa die Hälfte brauche für Kost, Wohnung, Werkzeug und Kleidung; also pro Tag 1 preuss. Thaler“.
So konnte er ein kleines Vermögen ersparen und stieg dann in Alegrete in die Firma seiner Brüder als Teilhaber ein. Sie hatten mehrere Grundstücke in Alegrete gekauft, und diese Bauplätze bebauten sie nun nach und nach. Sie arbeiteten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Deutsche, die neu in Alegrete ankamen, fanden bei ihnen Arbeit, bis sie sich selber etwas aufgebaut hatten. So beschäftigten sie im Laufe der Zeit auch Hans Heinrich Scharnberg, Fritz Willhöft, Hermann Bohmgahren, ihren Bruder Heinrich und Christian Selk. Drei brasilianische Lehrburschen hatten sie bei sich beschäftigt, die nur Arbeit und Werkzeug bekamen; Kleidung und Kost lieferten deren Herrschaften.

Es war Sitte in Alegrete, daß am Sonnabendmorgen die Bettler von Tür zu Tür zogen und Almosen erbaten; in der Werkstätte der Scharnbergs ging keiner leer aus. Beim ersten Morgengrauen hatte Johann schon eine Handvoll Kupfermünzen in die Ecke seiner Hobelbank gelegt. War er nun wegen Arbeit verhindert, sie selbst auszuteilen, so übergab er sie seinem Bruder Heinrich mit den Worten: „Scharnbarg, paß gaut upp, dat jeder sin Deil kriggt“.

Ihr eigenes Haus an der Hauptstraße hatten sie ausgebaut. Der größere Teil war Werkstatt, ein kleinerer ihre Wohnung. Den Rest hatten sie vermietet an den deutschen Schneider Wiegand Schmidt, der dort wohnte, seinen Laden und seine Werkstatt betrieb. Das Kapital, das sie erwirtschaftet hatten, hatten sie angelegt und bekamen zwischen 18% und 27% Zinsen darauf im Jahr. Alles in Allem schätzten sie sich „zu den Glücklichsten, welche jemals den Ocean überfahren haben.“
Als Zeichen ihrer brüderlichen Verbundenheit hatten sich Johann, Marx und Adolph drei gleiche goldene Taschenuhren fertigen lassen; in die goldene Uhrkette waren die Buchstaben A-M-I-Z-A-D-E eingearbeitet, das portugiesische Wort für "Freundschaft“.

In Trittau saß Heinrich Dieckvoß vor dem Brief, den er bekommen hatte. Adolph berichtete aus Alegrete über seine Hochzeit, zu der er Heinrich auch eingeladen hatte. Natürlich konnte er nicht nach Brasilien fahren, aber sie hatten das abgemacht, damals, bevor die Brüder Scharnberg aus dem Nachbarhaus nach Südamerika ausgewandert waren: Zu ihrer Hochzeit wollten sie sich gegenseitig einladen. Heinrich dachte an seine Maria, die Tochter vom Kätner Scharnberg. Sie war ja erst fünfzehn. Aber für ihn stand heute schon fest, dass es außer ihr keine andere für ihn geben würde.
Er wandte sich wieder dem Brief zu und las: Alle Verwandten in Alegrete waren zum Fest gekommen. Viele Deutsche und Brasilianer hatte Christian Schmitt zur Hochzeitsfeier seiner Tochter in seinen Garten eingeladen. Ein Buffet mit Speisen und Getränken war aufgebaut. Alles war festlich geschmückt und abends gab es Musik und Tanz.

Maries Reise nach Montevideo

Der schwedische Herr aus der Nachbarkabine kam ihr entgegen, als sie sich gerade ein wenig die Beine vertreten wollte. „Meine Dame, Montevideo ist in Sicht. Wenn Sie an Deck gehen, können Sie es steuerbord voraus in der Ferne liegen sehen“.
Marie Borstelmann ging nach oben. Ungeduldig erwartete sie das Ende der Reise. Nicht, dass sie Angst vor dem Meer gehabt hätte, nein. Ihr Vater war Schiffer, und so war sie von klein auf mit dem Element Wasser vertraut. Außerdem hatte sie schließlich auch auf Helgoland gearbeitet. Die Überfahrten auf die Insel waren manchmal recht stürmisch gewesen, ähnlich wie jetzt hier. Aber dieses Mal wartete ihr Bräutigam Marx im „Hotel de Paris“ auf sie. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie ihn im vergangenen Jahr im Laden von Krämer Dieckvoß kennengelernt hatte, als sie für die Küche ihrer Hamfelder Herrschaften dort einkaufte. Marx war schon einige Monate später wieder nach Brasilien zurückgekehrt, aber er hatte sein Versprechen gehalten. Er bat sie, nach Montevideo zu kommen, um ihn zu heiraten. Das Reisegeld in Höhe von 1.200 Mark könne sie sich von seinem Bruder Johann in Trittau auszahlen lassen.
Die Bedenken ihrer Freundinnen hatte sie in den Wind geschlagen. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, hatte sie ihnen geantwortet, „es ist bestimmt nicht für immer. Ihr werdet sehen, in ein paar Jahren kommen wir als reiche Leute zurück und dann baue ich mir hier meine eigene Pension“.

Es war eine angenehme Überfahrt gewesen. Mit den anderen Passagieren hatte sie sich gut unterhalten. Andere Dampfer steuerten häufig Lissabon an, um dort weitere Reisende an Bord zu nehmen. Sie waren vorbeigefahren, dafür wurde die Insel São Vicente der Kap Verden angesteuert. Dort wurden Kohlen eingeladen. Marie war mit den anderen Passagieren an Land gegangen. „Aber ach, es war eine traurige Küste Afrikas, wo nichts wächst, die Kinder liefen fast alle nackt herum und man konnte sich nicht vor dem Betteln bergen. Die Herren warfen ihr Geld ins Wasser und die Kinder tauchten hinterher und holten es wieder heraus.“

Das Schiff ankerte. Wegen des Sturms konnte es jetzt in der nächtlichen Dunkelheit nicht in den Hafen von Montevideo einlaufen. Adolph hatte am Kai gewartet. Dann kam die Nachricht, das Schiff liege draußen auf Reede. Kurzerhand charterte sich Adolph ein Boot, kämpfte sich gegen die stürmische See und den Gegenwind zwei Stunden lang zum Schiff durch. Er hatte es seinem Bruder versprochen, dass er sich um seine zukünftige Schwägerin kümmern würde, als sei sie seine eigene Schwester. Es war aber auch zu dumm. Ausgerechnet jetzt wurde Marx` krankes Bein wieder so schlimm, dass er nicht reisen konnte. Sobald es besser geworden sei, käme er nach – aber wie lange sollte das dauern? Adolph kletterte an Bord. Doch außer der Besatzung war niemand da. Der Kapitän hatte die Passagiere an Land gebracht und Marie noch bis zum verabredeten Hotel begleitet.

Nun bekam sie doch ein mulmiges Gefühl, als sie Marx im Foyer nirgends entdecken konnte. Hatte sie sich vielleicht in ihm getäuscht? Sie fühlte sich plötzlich ein wenig hilflos, denn sie verstand auch kein Wort von dem, was geredet wurde. Die Leute sprachen spanisch, portugiesisch, französisch – aber kein deutsch. Der Kapitän buchte ihr ein Zimmer und fragte nach, wann wohl ein Schiff aus Rio Grande käme. „Morgen, Capitain, aber es ist schon ein Herr von dort eingetroffen“, meinte der Mann an der Rezeption und holte die Visitenkarte von Adolph hervor.
Endlich kam Adolph selber und sie erkannten sich gleich anhand ihrer Fotos.

Zwölf Tage mussten sie sich nun miteinander die Zeit vertreiben. Sie bereiteten alles für die Trauung beim Friedensrichter vor, fuhren mit der Pferdebahn, oder machten Ausflüge aus der Stadt hinaus; dorthin, wo die schönen Villen lagen mit den hübschen Gärten, in denen die Apfelsinenbäume in voller Frucht prangten.
Als Marx endlich eintraf, war noch am selben Tag die Trauung und dann machten sie sich auf den Weg nach Alegrete, wo sie zehn Tage später eintrafen.

Revolution in Rio Grande do Sul

Die Jahre, die Marie in Rio Grande do Sul lebte, zählen zu den unruhigsten in der Geschichte des Landes. Es war der Übergang von der Monarchie zur Republik.

Im Laufe der 1880er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation zusehends. Neue Häuser wurden kaum noch gebaut, die Zahlungsmoral der Kunden war schlecht, die Zinsen niedrig. Handwerker gingen durch Alegrete spazieren und Kaufleute einer nach dem anderen bankrott. Adolph erschloss sich neue Betätigungsfelder. Er verpachtete Rinder zu 1.200 Reis pro Kopf und Jahr an Estancieiros, die sie auf ihren Zuchtfarmen mästeten. Jährlich zum Ende des Sommers wurden Trupps zusammengestellt und Troperos trieben das Vieh in großen Herden nach Pelotas. Immer häufiger kam es vor, dass die Pacht nicht bezahlt werden konnte, und so hatte Adolph dann plötzlich eine Herde von 300 Ochsen vor der Tür stehen, die er anstelle der Schulden annehmen musste; wollte er das Geld nicht ganz abschreiben.

Hinzu kam der Preisverfall für das Vieh. Als Adolph 1882 mit 150 Rindern anfing, hatte er beim Verkauf an die Troperos innerhalb von sieben Monaten 20% Gewinn gemacht. Schon im folgenden Jahr wurde in Pelotas pro Ochse nur 32 Milreis bezahlt, gegenüber 44 - 48 Milreis in vergangenen Jahren. 1887 war der Preis auf kaum 20 Milreis pro Kopf gefallen. Dafür lohnte es sich nicht, einen Trupp zusammen zu stellen; das Vieh erhielt eine Gnadenfrist auf den Weiden – aber der Verdienst eines Jahres blieb aus.

Auslöser für den Sturz des Kaisers war das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei von 1888. Eigentlich sollten die Sklavenhalter entschädigt werden, aber dazu kam es nicht. Widerstand regte sich nicht nur unter den Pflanzern, sondern auch in anderen Bevölkerungsschichten. Hinzu kam Unzufriedenheit mit der straff geführten zentralen Verwaltung. Als nun einige Bataillone von Rio de Janeiro verlegt werden sollten, um die Thronfolge für die unbeliebte Tochter des Kaisers zu sichern, kam es zur Militärrevolte. Marschall Deodoro da Fonseca ließ die Kaiserfamilie und die Minister verhaften, und an Bord eines Dampfers wurden sie nach Europa ins Exil gebracht. Eine Gegenbewegung wurde blutig niedergeschlagen. Die neue Regierung unter Fonseca gewährte allen Brasilianern, die lesen und schreiben konnten, das Wahlrecht. Dies war für viele der Anlass, die brasilianische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Auch Adolph und Heinrich August Scharnberg wurden auf diese Weise Brasilianer.

Heinrich klagte, die monarchiefreundliche liberale Partei, der er angehöre, sei aufgehoben und sie hätten sich alle der republikanischen Regierung unterzuordnen. Nach der Militärrevolte mit Gewalt eingesetzte Governadores seien inzwischen zurückgetreten, aber es sei bis dato noch kein Blut geflossen. Den hiesigen Blättern könne man jedoch wenig glauben, schreibt Heinrich aus Santa Cruz, sie hätten alle die republikfreundliche Miene annehmen müssen. Er klagte, die Steuern seien schon gewaltig erhöht worden, der Preis für ausgeführte Produkte sei bedeutend gefallen, der Preis eingeführter Waren jedoch enorm gestiegen und die Volksmeinung würde mehr und mehr eine empörende.

Es kam, wie es leider häufig der Fall ist: Unter dem neuen Präsidenten blühte die Korruption und Geld wurde in dem Maße gedruckt, wie es gebraucht wurde. Hinzu kamen ungünstige Handelsverträge, vor allem mit den USA. Dies führte zu großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Fonseca trat zurück, konnte aber dadurch Parteienkämpfe und das Ausbrechen von Bürgerkriegen, vor allem in Rio Grande do Sul, nicht verhindern.

Als Marx und Marie im November 1892 die neue Bahnlinie von Cacequi nach Porto Alegre benutzen wollten, bekamen sie einen ersten Eindruck der Unruhen. Ein Waggon ihres Zuges mit Pulver und Munition entgleiste, auf den Stationen war alles in Unruhe. Es wurden Reden gehalten und „Vivas“ gebracht; bei Rio Pardo waren die Schienen aufgerissen. Das reichte ihnen an Aufregung. Auf der nächsten Station in Conto verließen die beiden den Zug und fuhren mit dem Wagen weiter nach Santa Cruz auf die Kolonien von Christian Selk und Heinrich August Scharnberg. Auch Rudolph Scharnberg besuchten sie, der seit einiger Zeit mit seiner Familie in Santa Cruz wohnte.
Wenig später hatten die Unruhen auch Alegrete erfasst. Das stationierte Bataillon verließ innerhalb von vier Stunden die Stadt, weil es sich nicht ergeben wollte. Die Castilisten unter Major Macedo übernahmen das Kommando und besetzten Alegrete mit 200–300 Mann, alles rekrutierte Einheimische.

Dann kam die Nachricht, die man schon lange befürchtet hatte: Die Federalisten waren bei Sant`Anna über die Grenze gekommen und nach Alegrete geritten. 800 Mann unter Oberst Pinna lagerten nun auf der anderen Seite der Brücke. Im Morgengrauen des 20. März 1893 stürmten die Freischärler los:
„Vamos companheiros“! Der Kommandante feuerte seine Leute an. „Das Bier da vorne von dem Alemão, das schnappen wir uns“. Johlend ritt die Meute auf die Brauerei zu, schlug die Scheiben ein, plünderte das Bierlager und steckte die Brauerei in Brand, bevor sie mit ihrer Beute weiterzog in die Stadt.

Die Familie hatte hinter den Fensterscheiben ihres Hauses gestanden und das Treiben beobachtet, aber diesen räuberischen Banden stellte man sich besser nicht in den Weg. Und so musste der alte Heinrich tatenlos zusehen, wie alles, was er in den letzten Jahren aufgebaut hatte, in Schutt und Asche fiel.
Sollte jetzt alles wieder vorbei sein? Die sonntäglichen Treffen in seiner Gastwirtschaft, wo „ganz Deutschland“ zusammen kam? Die vergnügten Runden beim Kegelspiel im Garten bis spät in die Nacht? Seit er das Brauen begonnen hatte, war viel mehr Leben in die Stadt gekommen. Aber nun – ohne Bier...

Auch die Castilisten hatten der Übermacht nicht viel entgegen zu setzen. Schüsse fielen auf beiden Seiten. Ein ungeheurer Wirrwarr und Schrecken entstand; die Revolutionäre jagten unter lautem Hurra und Schüssen in vollem Galopp durch die Straßen Alegretes; die Einnahme der Stadt war das Werk eines Augenblicks. Fünf Tote waren zu beklagen, mehrere Verletzte und Gefangene machten die Freischärler, darunter auch Macedo. Sie setzten sich im Rathaus fest, nahmen sämtliche Gelder aus Staatskonten an sich, alle Waffen und Munition und zerstörten die Telegraphenlinien, sodass die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten war.

Trotzdem waren die Vorgänge der Regierung nicht verborgen geblieben, und 10 Tage später marschierten 800 Infanteristen ein, und 700 Männer der Kavallerie ritten nach Alegrete, um die Aufständischen zu vertreiben. Eine halbe Stunde außerhalb der Stadt, an der Farm vom alten Joaquin Tomais, trafen sie auf die Federalisten, die in den vergangenen Tagen über 1000 Alegreter rekrutiert hatten. Fünf Stunden dauerte das Gefecht, dann gewannen die Federalisten die Oberhand. Die Reiter jagten davon, vom Fußvolk fielen 300 Mann, die übrigen wurden auf ihrer Flucht niedergemetzelt.

Alegrete ist nach dem Abzug der Truppen sich selbst überlassen; die Schlachten finden nun im Süden zwischen Sant`Anna und Bagé statt. Polizei gibt es keine in Alegrete. Straftaten können ungesühnt begangen werden. Einige Handelshäuser und Hotels, die noch existieren, machen mit dem Sonnenuntergang zu, keiner geht abends mehr in der Stadt spazieren. Durch die Campanha streifen große Räuberbanden, die alles morden und stehlen, was sie finden. Herden von 500 Stück Vieh treiben sie fort, die Pferde der Estancieiros werden von ihnen kassiert, die Angst regiert.

Marx hat Glück gehabt, er ist bis jetzt ungeschoren davon gekommen. Allerdings hat er, solange die Revolution tobt, keine Chance seine Häuser zu verkaufen und nach Deutschland zurück zu kehren.
Adolph hat bis jetzt noch wenig verloren, aber es gibt sehr unruhige Nächte: Wer wie er nur noch Geldgeschäfte hat, kann immer gegenwärtig sein, überfallen zu werden. Der Macedo hat ihm seine ganzen Sachen übergeben; er will mit der nächsten Gelegenheit mit seiner Familie nach Uruguay auf seine Estâncias.

Einer, der alles verloren hat, ist Wilhelm Scharnberg. Er wurde von den Truppen völlig ausgeplündert. Sie nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war: sein Vieh, seine landwirtschaftlichen Geräte, Mobiliar.
Wilhelm gibt auf, verkauft das Land, dass ihm und seiner Familie – wie zuvor schon seinen Eltern – so viel bedeutet hat. Er will fort aus Alegrete - irgendwohin, vielleicht nach Ijuhi, und dort ein Gemüsegeschäft aufbauen.

Der "alte Heinrich" auf seiner Scholle, Brautschau von Wilhelm

Dieses Fleckchen Erde bei Alegrete; dort wo der Fluss Ibirapuitam eine Schleife zieht und das Land wie eine Halbinsel umschließt, das hatte Hans Heinrich Scharnberg damals schon gefallen, als er 1858 seinen Bruder Rudolph von Trittau nach Brasilien begleitet hatte. Damals war sein Traum gewesen, hier eines Tages eine Ziegelei zu bauen. Er hatte günstig die Maschinen und Geräte dafür kaufen können, und João hatte sie für ihn aufbewahrt. Noch hatte er nicht bleiben können, denn in Trittau wartete seine Frau mit den Kindern auf seine Rückkehr.
Elf Jahre später war dann das Haus in Trittau an einen Instrumentenmacher verkauft und dadurch das Startkapital für ein neues Leben mit der Familie in Südamerika vorhanden. Er kaufte seine Ecke Land, 30-40 Tonnen, für 3 Contos de Reis. Den Plan mit der Ziegelei musste er allerdings aus zwei Gründen schnell aufgeben:
Zum einen hatte er unterschätzt, welche Kenntnisse und Fertigkeiten zum Herstellen von Ziegeln nötig waren und dann war es die Beschaffenheit des Bodens, der nicht als Rohmaterial für Ziegel taugte. Durch die Ablagerungen des Flusses war das Land viel zu fett und schwer. Wer jemals in der Elbniederung ein Stück Garten beackert hat weiß, wovon die Rede ist.

Dieser fruchtbare Boden war aber bestens geeignet für den Anbau von Gemüse und Feldfrüchten. Und so entstand seine chacra, seine kleine Farm, wo er Gemüse und Obst anbaute, Roggen und Gerste säte, und den größten Teil als Weide nutzte für seine 60 Kühe und Ochsen. Jeden Tag spannte sein Sohn Wilhelm die Pferde ein, fuhr mit den Erzeugnissen zum Markt und verkaufte sie dort. Besonders begehrt war bei den deutschen Kunden sein Schwarzbrot, das es vorher dort noch nicht gegeben hatte.

Es war schwere Arbeit, für die sie Qualitätsgeräte und Maschinen „Made in Germany“ verwendeten, die sie sich aus der alten Heimat schicken ließen. Vom geschmiedeten Spaten über das Pferdegeschirr bis zur Häckselmaschine kam alles über den Atlantik zu ihnen. Er schrieb an Johann Scharnberg in Trittau:
"Lieber Vetter, meinen herzlichsten Dank und nichts für ungut, daß ich dich noch einmal zu kommandiere, denn es geht nicht anders, wenn man gutes Geschirr haben will, denn das neue Land hält ungeheuer fest. In Deutschland Bauer zu spielen ist gar nichts, da ist alles fertig. Hier soll alles gemacht werden und das mit Leute, die nichts verstehen. Wenn der Pflug durch das neue Land geht ist als wenn reißen will, denn ich habe jetzt meine Maulesels davor."

Als der alte Heinrich und seine Frau Maria auf die 60 zugingen, wurde ihnen die Arbeit zu schwer und sie überschrieben den Besitz ihrem einzigen Sohn Wilhelm. Der wurde auch schon bald 30 Jahre alt, war aber noch immer nicht verheiratet. Die Bewirtschaftung der Farm konnte einer alleine jedoch nicht bewältigen - eine Frau musste ins Haus.

Erste Wahl war für ihn die liebreizende Leopoldina Schmitt. Alleine dorthin zu gehen - nee, das traute er sich nicht. Aber wozu hat man Beziehungen? Adolph solle als Brautwerber mitkommen. Seinem Schwiegersohn wird der alte Schmitt doch wohl nichts abschlagen!? Irrtum. Wer nicht ganz gut mit seiner Familie bekannt war, kam nicht so leicht ins Innere des Hauses, und so mußten Adolph und Wilhelm sich begnügen, im Laden zu bleiben. Wilhelm bekam Leopoldina auf diese Weise gar nicht zu Gesicht.
Aber so leicht gab Wilhelm nicht auf. Am nächsten Tag ging er mit Jacob Krug zusammen wieder hin. Die Schmitts hatten inzwischen ihre Entscheidung getroffen: Wilhelm wollten sie nicht. Also bekam er vom alten Schmitt zu hören: „Meine Mädchen sind in der Stadt erzogen und nicht für einen Landmann. Sie sind nicht nur alleine für Arbeit und Essen, sondern sollten sich doch auch etwas amüsieren!"
„Ja, das kann sie doch auch. Ich habe doch Geld,“ erwiderte Wilhelm. Aber es nützte nichts.

Er hatte verstanden. "Dann eben nicht", dachte sich Wilhelm, "andere Väter haben auch hübsche Töchter - z.B. in Deutschland". Schon am nächsten Tag packte er seine Koffer und fuhr Hals über Kopf aus Alegrete ab nach Hamburg. Die Zeit hatte gerade noch gereicht, dass Marie, die Frau von Marx, ihm einen Brief für ihre Freundin Sophie in Hamfelde bei Richter mitgeben konnte. So waren die Scharnbergs in Trittau auch total überrascht, als Wilhelm plötzlich in der Tür stand! Aber er wollte sich nicht lange mit Plaudereien aufhalten und deshalb war er auch nicht lange dort; auch in Hamfelde bei Sophie war er nur zweimal.

Marie hatte ihrer Freundin allerdings nicht uneingeschränkt zugeraten, weil Wilhelm in Alegrete als geizig galt. Andere Mädchen, die ihm gefielen, waren bereits in festen Händen. So mußte Wilhelm ohne Braut wieder nach Brasilien reisen. Auf dem Rückweg von der Reise besuchte er bei Santa Cruz in den Picaden noch Christian Selk und Heinrich Scharnberg. Auch seinen Vetter Fritz Willhöft besuchte er, der in Cachoeira mit einer Brasilianerin verheiratet war, eine Tischlerei besaß und einen großen Holzhandel betrieb. Und da fiel es ihm ein: Warum bloß hatte er dessen Nichte Minna Wellmann in Trittau nicht gefragt?

Wieder in Alegrete angekommen, setzte er sich sofort hin und schrieb im April 1886 zwei Briefe. Den einen an Herrn Wellmann in Trittau und seine Tochter Minna, den zweiten an Johann Scharnberg in Trittau. Er hatte sich alles genau überlegt: Die Minna solle nicht nach Monte Video fahren, weil dort Revolution war, sondern direkt nach Rio Grande do Sul. Ein Billjet kostete 250 Mark, das Geld und etwas Reisegeld möge ihr der Johann geben. Am besten führe sie im August ab, weil ihm das im September am besten passe, sie in Rio abzuholen. Und wenn sie schon käme, könne sie doch bitteschön gleich die dringend benötigte Häckselmaschine, eine Staubmühle und ein Plätteisen mitbringen.

Wie das Leben so spielt, der Schwiegervater in spe hatte auch gleich geantwortet, nur war das Schreiben unterwegs verloren gegangen und Wilhelm hat nie erfahren, dass darin stand:
„Ja, die Minna wolle kommen, aber erst im folgenden Frühjahr, denn sowas will ja man sorgfältig geplant sein.“
Was Wilhelm aber erfuhr war, dass sie im September nicht kam.

Und während Minna in freudiger Erwartung auf ihre Reise übern Ozean alles für die Überfahrt im März des Jahres 1887 vorbereitete, ereignete sich in Brasilien folgendes:
Im Oktober `86 kam eine ältere Dame aus Porto Alegre nach Alegrete zu Besuch; im Schlepptau eine deutsche Hauslehrerin. Deren Name war Rosaline Bleidorn, sie war schon an die 30 Jahr und sehr gebildet! Sie konnte Klavier spielen und unterrichtete mehrere Sprachen. Nicht lange nach ihrer Ankunft hörte man, sie sei mit Wilhelm verlobt und am 8. Januar 1887 um 16:00 Uhr, als in Trittau die Minna noch von ihrem Glück träumte, fand in Alegrete die Hochzeit statt. Wilhelm nahm Rosaline als "den einen Spatz in der Hand, denn ob die Minna gekommen wäre, wußte ich doch nicht."

So, wie Adolph es ausdrückte, dachten viele damals in Alegrete: "Bei ihrer Vorbildung wird sie folglich für Bauernarbeit wohl wenig Anlagen haben, wollen dem Wilhelm aber das beste Glück wünschen". Doch Rosaline war körperliche Arbeit nicht fremd, und sie belehrte bald die Alegreter eines Besseren.

Heinrich August Scharnberg und Christian Selk in Santa Cruz

Bauernarbeit betrieben auch Heinrich August Scharnberg und Christian Selk, und trotzdem war es eine ganz andere Art von Landwirtschaft an den südlichen Ausläufern der Serra bei Santa Cruz. Hier wuchsen auf den Plantagen hauptsächlich Tabak und Zuckerrohr, aber auch Baumwolle, Mais, Reis, Bohnen und Kartoffeln. Die ganze Gegend dort war bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch Urwald gewesen, bevor die Kolonisten sie urbar machten. Eine Kolonie wurde um einen zentralen Punkt herum mit Wegen, den Picaden, durchzogen und in Kolonielose eingeteilt. Die ersten Siedler erhielten ihre Ländereien noch geschenkt; nach 1854 wurde zu 300 Milreis für ein Stück Urwald von ca. 48 ha. verkauft.

Noch 30 Jahre später berichtete Heinrich, es gäbe ziemlich oft "unfreundliche" Zusammenstöße mit Eingeborenenstämmen und auch die Tiere erinnerten noch an den einstigen Dschungel. Zwar gab's in der letzten Zeit keine Pumas mehr, aber Tigerkatzen, Tapire, viel zu große und giftige Schlangen. Rehe und viele Wildschweine. Heinrich schrieb an seinen Bruder in Trittau: "Die Wildschweine fallen oft in Trupps von 100 bis 200 Stück in den Mais ein. Dann heißt es aber aufgepaßt, denn die können in einer Nacht einen furchtbaren Schaden anrichten. Das Gewehr, welches ich noch von dir habe, hat sich schon probat erwiesen. Das Fleisch ist eine wirkliche Delikatesse. Sei so gut und grüße Freund Schlachter Johann von mir, ich thät ihn einladen auf die Jagd; denn man braucht hier nicht so versteckt mit der Flinte umher zu laufen als wie drüben auf Muttenbarg."

Kurz vor Weihnachten 1881 waren Heinrich und Christian eingetroffen in der Quer-Picade, ungefähr eine Stunde von Santa Cruz entfernt. Es traf sich, dass hier wenige Monate vorher zwei Kolonisten verstorben waren, und ihre Witwen nun große Schwierigkeiten hatten, das Land alleine zu bewirtschaften. Christian Selk heiratete in die Familie Knutzen ein und Heinrich Scharnberg zur selben Zeit in die Familie Bender. Ihre Häuser standen nur zehn Minuten voneinander entfernt, allerdings das von Christian auf einer Hügelkette auf der Zinne des Tempels und der Fahrweg dort hinauf war sehr schlecht.

Sie hatten sich schnell eingelebt. "Unsere Picade ist an beiden Seiten bewohnt, an der einen größtenteils von Katholiken, an der anderen von Protestanten. Und da diese Umgegend nur mit Deutschen besiedelt ist, fehlt es auch nicht an Vergnügungen, hier existieren deutsche Kirchen, Schulen, Hotels, Bierbrauereien, Clubs, Schieß- und Gesang-Vereine u.s.w. - es ist hier doch ein anderes Leben als in der Campagne."

Wollte man in Brasilien Fuß fassen, musste man flexibel sein. Das war in Alegrete so, wo das Stellmacherhandwerk wenig gefragt war, und hier bei Santa Cruz war es ebenso. Heinrich war zwar gelernter Stellmacher, aber damit ließ sich hier nicht viel anfangen. Und da er nun die Plantage vom alten Bender bewirtschaftete, betätigte er sich halt als Landwirt. Dabei war er durchaus erfinderisch. Bald baute er sich einen großen Schuppen, den er einerseits als Maismühle nutzen wollte, gleichzeitig aber auch zum Schnaps brennen: "... denn da hier durch mein Land ein ziemlich starker Bach fließt läßt es sich machen. Was die Holzarbeiten anbelangt mache ich sie selber, da ich mir schon von Verschiedenem die Zeichnung genommen habe. Der hiesige Schnaps wird nur von Zuckerrohr gewonnen, und da sich ein Theil meines Landes, der der Morgensonne am meisten ausgesetzt ist, sich für den Anbau desselben eignet, so werde ich die Einrichtung so treffen, daß die Pressen (2-3 dicke Walzen von Cabriuva Holz) gleich von demselben Rade getrieben werden, somit spart man wenigstens die Zugpferde."

Im folgenden Jahr pflanzte er "16 bis 18.000 Zuckerrohr, die immerhin 4 bis 5 Pipen Schnaps geben können; ich habe mich auf Brennerei eingerichtet."

Leider bewährte sich die Mühle nicht, der Bach war die meiste Zeit trocken und die (katholische) Konkurrenz groß.

So betätigte er sich neben der Landwirtschaft als Holzarbeiter: "Ich habe in diesem Jahr ziemlich aufs Handwerk gearbeitet, namentlich habe ich Pressen und Einrichtungen für Schnapsbrennereien gemacht, welches auch noch am besten mit bezahlt wird, aber es ist auch eine schwere Arbeit, ich hatte mich zuviel bei angestrengt, daß mich der rechte Arm bedeutend angeschwollen war, und in längerer Zeit nicht das geringste machen konnte. Auch habe ich mehrere Räder und sonstige Wagenarbeiten gemacht, doch die Arbeit wird demnach nicht bezahlt. Unweit von hier wohnt ein Stellmacher, der die ganzen Arbeiten sowie bohren, stemmen, Felgen schneiden, und auch sogar die Speichen fertig schneiden läßt von der Maschine machen, somit ist der Mann im Stande die Wagen sehr billig zumachen."


Alwine Heinrich August Mathilde
Marx Martha Helena Arthur Hedwig Heinrich August

1892 hatte er die Kolonie vom Schwiegervater verkauft, weil auch die Plantagenarbeit zu schwer für ihn war; sein Rücken war kaputt. Vormittags betätigte er sich nun als Lehrer in der Picade, nachmittags arbeitete er als Tischler. Daneben war er Geschworener am Gericht und Vorstand der evangelischen Gemeinde; und er vertrat den Pastor, wenn dieser wegen widrigen Wetters nicht zum Predigen kommen konnte.

Und dann kam das Jahr 1903. Es war das schwärzeste, das Heinrich August erlebte. Und das, wo er es gerade geschafft hatte, dass die Familie zuversichtlich nach vorne gucken konnte. Er war als Regierungslehrer angestellt und nicht mehr von den Schulgeld-Zahlungen der Kolonisten abhängig, und er hatte für seine Familie ein neues Haus gebaut. Das alte platzte auch aus allen Nähten, denn schließlich hatte er mit Charlotte inzwischen acht Kinder, und sie erwartete nun wieder Zwillinge. Die Geburt verlief soweit gut, aber Charlotte bekam Lungenentzündung, an der sie einen Monat später starb. Wenig später folgte einer der Zwillinge. Heinrich war nun Witwer mit neun Kindern. Das Haus hat die Zeiten überdauert und steht nach wie vor in Monte Alverne, der Kolonie des 3. Distriktes nordöstlich von Santa Cruz.

Marx und Marie wieder in Trittau

"Gestern sind wir hier glücklich und wohlbehalten nach einer Reise von 41 Tagen angelangt. Desterro ist ein Frachtdampfer und läuft nur langsam. Hier in Antwerpen müssen wir wieder zwei Tage liegen um Kaffee auszuladen. Wenn sonst nichts im Wege kommt, können wir Sonntag oder Montag in Hamburg sein".
Marie zog tief die Luft ein. Trittau - endlich waren sie wieder in der geliebten Heimat. Sie hatte das Abenteuer Brasilien abgehakt. Von Anfang an war es ihr Ziel gewesen, nach ein paar Jahren wieder nach Deutschland zurück zu kehren. Marx wollte eigentlich für immer in Brasilien bleiben, aber: Steter Tropfen hölt den Stein! Und dann kam auch noch das unmögliche Verhalten von Adolph und seiner Familie dazu. Lange hatte sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht - aber was zu viel ist, ist zuviel!
Schon länger war das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern Marx und Adolph nicht mehr das Beste gewesen. Adolph warf Marie vor, sie habe schlecht über Adelaides Familie geredet; Marie warf Adolph mehrfach vor, er würde Marx Geld vorenthalten, das ihm zustünde. Adolph beschuldigte Marx und Marie insgeheim des Geizes, der Missgunst und Falschheit. Es kam zum Streit, und ohne Versöhnung, ohne Abschied waren sie in Alegrete auseinandergegangen, als Marx und Marie wieder zurück nach Deutschland fuhren.

In Trittau verwirklichte Marie ihren Traum von der kleinen Pension. Sie hatten sich in der Bahnhofstraße 13 ein schönes Haus gebaut. Zu der Zeit war es das letzte Haus Trittaus (auch der Bahnhof war noch nicht gebaut). Da das Haus ziemlich groß war, vermieteten sie des Sommers mehrere Zimmer an Sommerfrischler - meistens aus Hamburg -, die bei ihnen schliefen und im Hause nebenan zum Essen gingen.

Marx half seinem Bruder Johann des Öfteren in der Stellmacherwerkstatt. Der freute sich über die Gesellschaft, stellte jedoch fest, dass Marx viel schweigsamer geworden war. Das unbekümmerte Wesen aus früheren Jahren hatte er irgendwann in Alegrete verloren. Und über die zusätzliche Arbeitskraft freute Johann sich auch, denn um einen Gesellen einzustellen, fehlte ihm das Geld.
Die beiden Brüder unternahmen auch sonst viele Dinge gemeinsam, gingen in Trittau zum "Hasen verschneidern", bei dem Johann zwei Hasen gewann und Marx einen schenkte. "Na, wie is", fragte Johann später, "Hebbt ji jo die Haas smecken loten?" "Nee, Marie wollte keinen Hasen. Ich hab ihn für einen Fasen eingetauscht." Marx und Johann besuchten auch zusammen den Trittauer Herbstmarkt, wo Johann sich drei Ferkel kaufte, um sie aufzuziehen, wie er es jedes Jahr tat. Marx war so begeistert von den Ferkelchen, dass er bedauerte, keinen Stall zu haben.
Später ging er noch mal zum Markt und kaufte sich ein Ferkel. In Ermangelung eines Stalles brachte er es in Maries Waschküche unter.

Joâos Leben

Sie hatten gesammelt im Club in Alegrete. Wenigstens das wollten sie noch für ihn tun: Er sollte eine ordentliche Beerdigung bekommen auf dem Kirchhof; und nicht verscharrt werden wie ein Hund. Alle hatten sie ihren Beitrag dazu gegeben, und so konnte tatsächlich eine kleine Feier ausgerichtet werden. Immerhin gehörte er früher zu den reichsten Männern Alegretes. Zwei Geschäftshäuser an den Hauptplätzen der Stadt hatten ihm gehört, sein Namenszug prangte über den Eingängen: João Scharnberg.

Nach der Trauerfeier sitzen sie im Clubhaus, und alte Geschichten machen die Runde:
„Stimmt das eigentlich, dass er zu den Brummern gehört hatte?“
„Du meinst, zu den Kampfgenossen aus der schleswig-holsteinischen Erhebung von 1848, die anschließend für den Krieg gegen Argentinien angeworben worden waren?“
„Genau die meine ich.“
„Gut möglich. Danach wurden sie von dem brasilianischen Kaiser doch großzügig entlohnt. Vielleicht war das Joãos Startkapital für die späteren Geschäfte.“
„Kann sein. - Er hat aber nie darüber gesprochen.“
„Schade, dass wir seine Brüder nicht mehr fragen können – die wüssten das sicher.“
„Wieso, was ist denn mit dem alten Heinrich – lebt der nicht mehr?“
„Doch, soweit ich weiß, schon. Er wird in Porto Alegre von seiner Tochter Emma gepflegt. Mit allen anderen aus der Familie hat er sich ja zerstritten“.
„Der João war als Legionär hierher gekommen."
Hört ihr's? Der Krug Jacob weiß was darüber. Erzähl doch!"
"Das war, als wir mal zusammen einen über den Durst getrunken haben. Da hat er darüber gesprochen. Bis 1850 ging der Krieg gegen Dänemark. Und als das vorbei war, hatte er keine Lust auf Dorfleben in Deutschland. Da kam ihm unser Minister Barros gerade recht. Der war damals in Hamburg unterwegs, um Soldaten anzuwerben für den Krieg gegen General Rosas. Na ja, da hat sich João halt als Pionier einschiffen lassen. Erst nach Rio, und von dort weiter nach Montevideo. Da sind sie als erste der deutschen Legionen eingetroffen, weil die anderen zu Fuß marschieren mußten. Technische Ausrüstung vom Feinsten. Aber personalmäßig 'ne Katastrophe. Viele machten die Fliege. Von den 300 Mann blieben noch 180 übrig. Die wurden auf die verschiedenen brasilianischen Infanteriebataillone aufgeteilt und Rosas hat dann ja auch mächtig Keile von ihnen bezogen.
Als das 1852 vorbei war, sind sie zurückmarschiert. Über Pelotas nach Porto Alegre. 80 Kontos de Reis in Gold hat jeder gekriegt, der bis dahin durchgehalten hatte. Damit ist der João hier nach Alegrete gekommen. Und nicht nur er: Heini Beulke war dabei, und der Carlos Leber, Nagel und Julius Trautmann. Alle hier gelandet."

„Der João hatte immer neue Ideen, und in die verschiedensten Geschäfte investiert,– meist mit hohem Einsatz.“
„Du denkst an die Brauereigeschichte mit dem August Bohmgahren?“
"Ja. Aber auch an seine Gerberei, die er angelegt hatte dort an der Landzunge."
„Das war doch eine logische Konsequenz: Den Viehhandel im großen Stil betrieb er schon lange – begleitete seine Herden nach Pelotas und wickelte dort bei der Gelegenheit seinen ganzen Finanzkram ab“.
„Später schlachtete er gleich hier, jeden Tag 2-3 Ochsen, und das Fleisch hat er in seiner Schlachterei in der Stadt verkauft. Aus dem Fett ließ er Lichter und Seife machen; dann hatte er die Gerberei nebst Sattler und Schuster sowie den Schneider Bohmgahren. Der hat für ihn im Laden gearbeitet.“

„Jacob, mit dir zusammen hat der João doch auch mal gearbeitet...“
„Aber nicht lange. Muss so 80/81 gewesen sein, als ich das neue Hotel für den Philipp gebaut habe. João fing dann anschließend wieder ein eigenes neues Geschäft an.“
„Das war doch schon die Zeit als es mit unserer Wirtschaft so bergab ging. Und zusätzlich hatte er sich häufig beim Rangieren seines Geldes verspekuliert. Ich denke noch an die Geschichte mit den 6000 Ochsen“.
„War doch typisch für den João: nicht kleckern, sondern klotzen. Hey Wiegand, hättest du das auch gemacht?“
„Ich bin doch nur ein armer Schneider. Hätte gar nicht gewusst, woher ich das Geld zum Kauf von 6000 Ochsen nehmen soll.“
„Und der João wusste dann nicht mehr, woher er das Geld für den Verkauf nehmen sollte: 20 Contos de Reis hat er draufgezahlt, um die Viecher wieder los zu werden“.

„Ja, lacht nur über ihn. Dabei hatte er auch privat viel Pech – und da konnte er nichts dafür. Denkt mal an seinen einzigen Sohn, den Heinrich.“
„Wisst ihr noch, die Geschichte damals in Porto Alegre?“
„Das war vor meiner Zeit. Was war denn da passiert?“
„Es stand in sämtlichen Zeitungen hier im Süden: João hatte seinen Filius aufs Colégio nach Porto Alegre gegeben, auf dass er eine anständige Erziehung bekomme. Und was macht der Bengel? Entführt seine Herzensdame bei Nacht und Nebel, dieses arme, unmündige Mädel. Polizeilich haben sie ihn dann gezwungen, die Candida zu heiraten.“
„Vater João hat die junge Familie hierher zitiert und mit Heinrich und dessen Kumpel aus der Privatschule ein neues Geschäft angefangen“.
„Ja, ja - manchmal muss man zu seinem Glück gezwungen werden.“
„Na, viel Glück haben sie nicht gehabt: Ihr Sohn war blind. Es heißt, unser Arzt hier hätte das verpfuscht. Die Candida war dann mit dem Sohn nach Passo d`Batista, und danach konnte er wenigstens auf dem einen Auge wieder etwas sehen“.

„Und wie geschah es, dass der João dann so sehr herunterkam? Die letzten Jahre hauste er nur noch zurückgezogen in dem alten Häuschen, da unten, dicht bei der Brücke am Fluss“.
„Das hing mit dem Eisenbahnbau zusammen, wenn ich mich recht erinnere. Adolph, hattest du nicht damals auch deine Gelder dazwischen?“
„Wir aus der Familie hatten João alle finanziell unterstützt, als er das große Projekt in Angriff nehmen wollte. Ein Vorhaben, das sich bis nach Santa Cruz herumsprach und Erstaunen auslöste. Ihr wisst ja, wie schleppend es voran ging mit der Planung für die Bahnlinie. Und als endlich die Anteile alle gezeichnet waren, kam kurz darauf die Revolution dazwischen. João hatte für 800 Contos gezeichnet, konnte nun aber andererseits seinen Verpflichtungen aus dem Bauauftrag für die 20 Kilometer Strecke, die er übernommen hatte nicht mehr nachkommen, weil keine Regierung mehr da war, die bezahlte. 7% Zinsen auf 30 Jahre hatten sie zugesagt bekommen für ihre Anleihen, und nun kam nicht ein müder Real rüber.

1896 war es, da war er endgültig bankrott. Er war nach Rio Grande gefahren, um zu sehen, ob die Gläubiger ihm noch etwas ließen, aber es war vergebens, und so ging er ärgerlich fort. Der gerichtliche Bankrott war unvermeidlich. Zwei Jahre später war dann das Konkursgeschäft zuende. Das Gefängnis war ihm erspart geblieben, aber die Creditoren mussten alles verlieren und die Verfahrenskosten noch dazu bezahlen. Der alte Heinrich verlor vier Contos, Wilhelm 3 ½ Contos, ich selber konnte drei Contos abschreiben. Jacob, du warst noch am besten dran.“
„Ja, ja. Ich hatte der Sache von vorneherein nicht getraut. Mein Schaden hielt sich in Grenzen.“
„Ich denke, das war auch der hauptsächliche Grund, dass João sich von da an so sehr zurückzog und man ihn kaum noch sah. Es tat ihm selber wohl sehr leid, dass er seine Familie so mit hineingerissen hatte. Es hat ihm das Herz gebrochen.“

„Nun mal zu einem erfreulicheren Thema: Wie weit sind eigentlich die Planungen für unser neues Clubhaus gediehen? Adolph, du bist unser Finanzminister, wie sieht`s aus?“
„Nach dem Kontostand zu urteilen, wird es wohl noch ein paar Jahre dauern mit dem Neubau. Aber zusätzliche Spenden werden jederzeit entgegengenommen.“

Adolph und sein Sohn Joâo in Trittau

1913 war es dann soweit, das neue zweigeschossige Haus des Club Casino stand an der Praca neben dem alten. Es hatte 120 Contos gekostet und Adolph als Schatzmeister fuhr nun zusammen mit seinem Sohn João nach Deutschland, um dafür einzukaufen. Auf diese Art kam er noch einmal in die alte Heimat.
Zuweilen, wenn er sich die alten Briefe vorgenommen hatte, die er alle aufbewahrte, bekam er Heimweh – zu viele Erinnerungen an die Schulkameraden und an seinen Vater wurden wieder wach. Seitdem Marx 1882 nach Trittau gefahren war, wollte auch Adolph das Vaterhaus noch einmal sehen. Aber die wirtschaftliche und politische Situation in Brasilien und auch die sich stetig vergrößernde Familie machten die Sache aussichtslos.

Nun also konnte er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Im Vorwege hatte Bruder Johann in Trittau schon eine Kiste mit Katalogen geschickt, und die 250 Clubmitglieder in Alegrete suchten aus und beauftragten die Fabriken. Jedes einzelne Teil erhielt die Gravur „Casino“; und natürlich war alles aus feinstem Porzellan, Kristall und Silber:

  - 50 Dutzend flache Teller
- 25 Dutzend tiefe Teller
- 100 Dutzend Biergläser
- 25 Dutzend Wassergläser
- 50 Dutzend Portweingläser
- 50 Dutzend Licörgläser
- 10 Dutzend Messer und Gabeln
- 10 Dutzend Suppenlöffel
- 10 Dutzend Geschirr für Nachtisch
  - 1 Satz Tranchier-Geschirr
- 40 Dutzend kleine Kaffeetassen
- 10 Dutzend große Kaffeetassen
- 30 Dutzend Teetassen
- 10 Dutzend Champagnergläser
- 1 Dutzend Kaffeekannen
- 1 Dutzend Teekannen
- 50 Dutzend Tee- und Kaffeelöffel
 

Am 26. Juni 1913 reisten dann Adolph und João ab Montevideo in der 1. Klasse auf dem Dampfer "König Friedrich August". Sie verpassten Wilhelm Scharnberg nur knapp, der am 18. Juni von dort abgefahren war, um die kommenden Jahre in Pinneberg zu leben.

Ungewöhnliche Ereignisse erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Johanns Sohn befand sich im Juli auf Urlaubsreise am Gardasee, als er das Telegramm aus Trittau bekam:
„Onkel Adolph und Vetter Joao aus Brasilien am 17. in Hamburg. Komm zurück. Vater.“

Johann junior brach also seinen Urlaub ab und betätigte sich die kommenden Wochen als „Bärenführer und Geschäftsvermittler“, wie er es einem Freund schrieb: „Ich zeige alles nur irgend Mögliche und kaufe zusammen mit den Brasilianern alles Unmögliche. Geige, Harmonium, Trompeten, Trommeln, Flöten, Mundharmonikas, Schreibmaschinen, Hörapparate, Hüte, Anzüge, Servietten, Medaillen (7.500 Stück für Wahlagitationen), Uhren, Ketten, Armbänder, Ringe, Halsschmuck u. dgl. Karnevalsartikel, Rasierapparate, Gläser, Teller, Schüsseln, silberne Bestecke für 5.000 Mark. Das ist so ein kleiner Auszug aus den endlosen Listen der Bestellungen. Dabei lerne ich dann auch die Geschäftswelt Hamburgs ein wenig kennen; schade nur, daß ich mehr aufrichtiger Schulmeister als reeller Geschäftsmann bin, sonst könnte ich bei den vielen Prozenten, die ich schinde, leicht auch für mich mehr als eine Gardaseereise herausschlagen.“

Leider hatten sie kein Glück mit dem Wetter: Es regnete oft und war auch für August ungewöhnlich kalt. Joâo bedauerte immer mehr, mit nach Deutschland gefahren zu sein. Er saß in der kleinen Küche am Herd und sehnte sich nach seinem Zuhause und nach seinem Spitz. Seine Schwester Luiza hatte geschrieben: "Der Spitz versuchte in der ganzen Stadt, dich zu finden. Er suchte im Café am Platz und im Restaurant, überall. Als er dich nicht fand, war er tottraurig. Wir riefen ihn und er wusste, dass er dich nicht mehr finden würde. Er ist dick wie eine Tonne. Das Halsband passt ihm nicht mehr. Und er ist sanft wie ein Lamm. Wenn wir ihn anfassen, beißt er auch nicht mehr."

Es war Sonntagmorgen, sie waren in Trittau auf dem Weg zur Kirche.
„Adolph, kiek di dor binnen man uns‘ niege Döpschöttel an.“
„Eure was?“
„Unser neues Taufbecken, Onkel Adolph.“
„Segg ik doch. Dor steiht wat anschrieven: ‚Gestiftet von Heinrich Willhöft in South Pasadena Californien'. Hein hett dat spendeert. Uns‘ Paster Jessen hett em vun de Siet ansnackt vun wegen: ‚Er habe doch so viel erreicht im Leben und sei Trittau ja auch immer verbunden geblieben‘ ..un so. Dor kunn Hein gor ni anners. Fiefhunnert Mark hett he geven.“
„Willst du mir damit sagen, ich solle auch was spenden?“
„Nee, dat wull ik nich seggen. Uns Paster is ok dood bleven in Harvst vörig Johr. Twee Maand na uns Marx hebbt wi em to Eer bracht. Na Broder, hest di dor dröben goot in de Ümstänn inlevt.“
„Schon, - warum?“
„Hier bi us treckst dien Deckel vun‘n Kopp, wenn wi nu dor rin gahn, un de brennende Zigarr ut de Snuut!“

Inzwischen waren in Hamburg auch die bestellten Sachen für das Casino eingetroffen und Anfang September schifften sich Adolph und João wieder ein nach Südamerika. Nach 25 Tagen kamen sie heil mit ihrer halben Schiffsladung voll Sachen in Montevideo an. Bis sie allerdings die Dinge in Alegrete auspacken konnten, dauerte es noch einige Wochen. Die Zöllner hatte ein lebhaftes Interesse an ihren Einkäufen, und Adolph musste für Transport und Zoll noch mal das 1 ½ -fache des Einkaufspreises hinlegen.

Wilhelm in Pinneberg; Kriegsfolgen in Brasilien

Wilhelm hatte nach dem Tod seiner Frau in Ijuhi wieder geheiratet. Sein Gemüseladen lief gut und die Kinder waren schon recht selbstständig. Aber jeden Tag gab es Streit: Seine Kinder verstanden sich mit ihrer Stiefmutter überhaupt nicht. Wilhelm hatte ihn satt, diesen ständigen Unfrieden. So entstand die Idee, wegzuziehen. Warum nicht mal in Deutschland leben? Eigentlich wollte Wilhelm mit Adolph zusammen über den Atlantik fahren, aber die Schiffe waren so ausgebucht, dass keine vier Billets für denselben Dampfer mehr zu bekommen waren. Na ja, eine Fahrt 1. Klasse hätte er für seine Frau und sich sowieso nicht genommen.
Er hatte sich eine ungünstige Zeit ausgesucht für einen neuen Start in Pinneberg: Gerade, als er sich in der Moltkestraße eingelebt hatte, begann der 1. Weltkrieg. Zum Kriegsdienst wurde er zwar nicht heran gezogen, aber es wurde immer schwieriger, Obst und Gemüse für den Laden zu bekommen. Besonders schlimm war der Winter 1916/17. Die Nahrungsmittel waren ohnehin schon knapp, und im Herbst fielen durch Missernten auch noch die Kartoffeln als Grundnahrungsmittel aus. Der einzige Ersatz dafür war die Steckrübe. Sie ermöglichte das Überleben großer Teile der Bevölkerung. Jeden Tag wurden Steckrüben gekocht oder gebraten oder kamen als Suppe auf den Tisch; und so ging dieser Winter als „Steckrübenwinter“ in die Geschichte ein.
Im September 1919 konnten Wilhelm und seine Frau endlich wieder eine Schiffspassage nach Brasilien buchen, wo Wilhelms Kinder es inzwischen zu einigem Wohlstand gebracht hatten. Sein Sohn Guilhermo war 1913 in den ersten Stadtrat Ijuhis gewählt worden. Wilhelm und Luiza meldeten sich ab in Pinneberg mit dem Ziel Ijuhi: "Bis das wir dann wieder zuhause sind sind es 6 1/2 Jahre, daß wir fort waren".

Auch an Brasilien war der Krieg nicht spurlos vorüber gegangen. In Ijuhi wurde die deutsche Kirchengemeinde verboten, die Kirchenbücher verbrannt. In den Gegenden wie z.B. Santa Cruz, wo viele Deutsche zusammenlebten, waren die Repressalien noch am wenigsten ausgeprägt. Heinrich August Scharnberg spürte sie noch am deutlichsten daran, dass kein deutsches Buch in den Schulen erlaubt war und er keinen Unterricht mehr in deutscher Sprache abhalten durfte. Gut, das war für ihn inzwischen an sich kein Problem mehr. 1902, als er die Prüfung zum Regierungslehrer ablegte, hatte der Probeunterricht auch ausschließlich in portugiesisch zu erfolgen. Damals wurde ihm noch „etwas heiß“, dass ihm ja nicht ein deutsches Wort herausrutschte und er hatte vor der strengen Prüfungskommission bestanden. Aber nun die Muttersprache ganz verboten zu bekommen, das schmerzte. Er berichtete: „Von den Aliierten gezwungen, besonders auch von Nordamerica, fand der Abbruch der diplomatischen Beziehungen statt. Bei Kriegserklärung verschärfte sich die Lage. Am selben Tag wurden in Porto Alegre mehrere große Exporthäuser vom Pöbel angesteckt im Werte von über 30 Millionen. Schlimm steht es für die Deutschen, welche vereinzelt unter den anderen Nationen wohnen.“

So war es in Alegrete. Hier waren die Deutschen nur eine kleine Minderheit. Adolphs größtes Haus war zur Hälfte vermietet an einen Colonialwarenhändler, in der anderen Hälfte befanden sich das Contor und die Wohnung der Söhne. Adolphino war auf Geschäftsreise gefahren. Es war Mitternacht, João und Frederico schliefen. Da fing ihr Spitz fürchterlich an zu bellen und lief zu Joãos Bett. Der wurde ärgerlich und warf seinen Stiefel nach dem Hund. Aber der Spitz ließ sich nicht vertreiben. Er lief laut bellend an Fredericos Bett und weckte ihn. Der wachte auf, schnupperte Brandgeruch und nur mit Unterhose und Hemd bekleidet konnten die beiden Jungen ihr Leben retten. Der Spitz kam im Hause um. Alles verbrannte, auch alle Briefe aus Trittau, die Adolph über 50 Jahre lang aufbewahrt hatte.
Der Schaden insgesamt belief sich auf über 50 Contos, und da sie nicht versichert waren, verloren sie durch den Brand einen großen Teil ihres Vermögens.

Nun siedelten sie ganz nach Porto Alegre um. Schon lange hatte Adolph seine Gelder in Firmen angelegt, die in Porto Alegre ihren Sitz hatten. In Alegrete, in der Provinz, ließen sich keine lohnenden Geschäfte mehr machen. Die Musik spielte in den großen Städten an der Küste. Seine Söhne konnten in guten Geschäftshäusern unterkommen in leitenden Positionen. João als Prokurist in der Waagenfabrik Domingos C. Lino, Lino war auch Mitinhaber einer großen Drogeria, in der Adolphinho erster Buchhalter war. Frederico arbeitete als Prokurist in einer Bierfabrik.

Adolph und Adelaide 1927

Man schreibt das Jahr 1927.
Adolph sitzt im Lehnstuhl in seinem Landhaus in Gloria. Er sieht hinaus auf den Guahyba, auf dessen Wasseroberfläche sich die Strahlen der untergehenden Sonne widerspiegeln. Ein lauer Wind weht durch das offene Fenster, und macht in diesem heißen Dezember die Luft erträglicher als sie es in der Stadt Porto Alegre ist. Adolph blickt hinüber zu seiner Frau, mit der er vor wenigen Monaten die goldene Hochzeit gefeiert hat. „Ach Adelaide, was geht es uns doch gut, nicht wahr? Haben wir nicht alles erreicht, was es in einem Menschenleben zu erreichen gibt?“

„Ja, Adolph. Wir sind gesund, haben keine finanziellen Nöte, und unsere Söhne sind alle angesehene Prokuristen in den besten Häusern Porto Alegres. Und auch unsere Mädels haben jede etwas erreicht nach ihren Neigungen. Weißt du, ich wollte immer, dass auch sie auf eigenen Füßen stehen und sich selber ihren Unterhalt verdienen können.“

„Du hast sie auch immer gefördert in ihrer Entwicklung. Denke nur, was dein Bruder Johann uns in den Jahren alles geschickt hat aus Deutschland. Weißt du noch, wie die Alice ihre erste Nähmaschine bekam? Schon damals, sie war ja erst 14 Jahre alt, war sie sehr geschickt. Viele Jahre haben wir die Zeitschrift ‚Bazar‘ durch Johann bekommen und Alice hat nach den Vorlagen daraus die Kleider für unsere Kleinen genäht.“
„Ja, Adelaide. Oder die Musterbücher für Leopoldina. Sie hat ja schon als Kind schöne Bilder gemalt, aber durch die Bücher hat sie sich erst richtig darin üben können. Wenn wir sie damals in Alegrete gesucht haben, fanden wir sie oft auf den Wiesenauen am Ibira beim Skizzieren.“

„Ich sehe noch unseren Adolpho, wie er als erster in Alegrete mit dem Fahrrad eure Waren auslieferte.“
„Und ich sehe mich noch beim Reifenflicken! Nur gut, dass uns der Johann das ganze Zubehör gleich mitgeschickt hat. Unsere Straßen damals, Anfang des Jahrhunderts, waren ja noch in einem katastrophalen Zustand. Erst, als ich die Rollschuhe für die Jungs schicken ließ – das muss so 1909/10 gewesen sein – war der Belag etwas besser. Mit als erstes hatten sie die Wege im Stadtpark, damals nannten wir es ja noch ‚die Praca‘, mit großen Betonplatten ausgelegt. Wir haben doch noch das Foto, das unser João damals selber gemacht hat.“

Aber Adolph musste sich eingestehen, dass er nicht mehr der Jüngste war. Drei Konzertreisen hatte er mit seiner Tochter Luiza dieses Jahr durch den Bundesstaat Rio Grande do Sul gemacht, und die waren fast über seine Kräfte gegangen. Aber was hätte er tun sollen? Luiza hatte ihr Sängerdiplom bestanden, und die Reisen waren ihre große Chance, bekannt zu werden. Aber alleine konnte sie die Tourneen nicht machen. Adolphs Söhne hatten keine Zeit, ihre Schwester zu begleiten. Über so lange Zeit konnten sie nicht von ihren Arbeitsplätzen fortbleiben. Also fuhr Adolph mit ihr. Die letzte Reise führte sie auch nach Rio Grande und er stand an derselben Stelle, wo er 60 Jahre zuvor gestrandet war, unter Lebensgefahr das Festland seiner neuen Heimat erreichte, und das Abenteuer Brasilien für ihn begonnen hatte.